„Lieber geh' ich kaputt...“

■ Der Kälbermastskandal — von Massenschlachtung, Verlierern und Krisengewinnlern

Mit beiden Händen greift Helmut Bone eine Portion zartgelber Kücken und schubst den piepsenden Haufen nach rechts unter den Strahler: „Hier isset warm, Jungs.“ Wenn nachher die Nacht kommt, sind die am Morgen geschlüpften, hoffnungsvollen Hähnchen auf die Wärmequelle angewiesen, „sonst geh'n sie kaputt“. Der Bauer richtet sich auf. „Wir haben wat hinter uns!“ In diesem Stall, wo die Bones heute mit giftfreiem Futter Hähnchen mästen, zogen sich einmal enge Boxen für mehr als 600 Kälber an den Wänden entlang. Bis, vor gut zwei Jahren, zu nachtschlafender Zeit, der Großmäster Josef „Jupp“ Brüninghoff die letzten noch halbfetten Kälber abholen ließ.

Felix Hying aus Südlohn im Kälberkreis Borken war da schon wieder aus der Untersuchungshaft entlassen. Mit seiner Verhaftung im August 1988, mit Beschlagnahmungen hormonverseuchten Viehs in seinen und den Vertragsställen des zweiten großen Mästers, Bernhard Wigger, war der Kälbermarkt zusammengebrochen. „Und da boten sich die Bauern hier dem Brüninghoff an. Stallste bei mir auf, Jupp. Ich machet billig, ham' die gesagt!“ Und Brüninghoff kam, zahlte Hungerlöhne und machte sich breit: ein neuer Kälberbaron im Münsterland.

Josef Brüninghoff ist der Krisengewinnler im Kälberskandal. Das erwies sich schon ein Jahr später. Auch der Kälberskandal im 89er Sommerloch, diesmal um mastfördernden Hustensaft im Kälberfutter, änderte daran nichts. Bei all den verzweifelten Lohnmästern hatte „Jupp“ abkassiert, nur bei Bone nicht. Der wehrte sich mit seinem schriftlichen Vertrag gegen die Preisdrückerei, ging vor Gericht — und gewann. Da hatten Brüninghoffs Leute die Kälber aber schon abgeholt.

Was dann kam, war hart. „Im Winter haben wir dat Holz von den alten Boxen verheizt, sonst wären wir hier verfroren in unser'm Bau“, grollt der Vater zweier Kinder. Für Heizöl war kein Geld da. Zwar mußte Brüninghoff über 122.000 Mark plus Zinsen an Bones nachzahlen, doch hatte die Familie Schulden aus der Kälbermast-Zeit. Nach dem Prozeß hatte Bone in der Branche keine Chance mehr. Und der heute 36jährige wollte auch nicht mehr. Wie ein Besessener fuhr er im Lande herum und suchte sich einen neuen Markt. Jetzt beliefert er Läden und Kantinen mit biologischem Gemüse und seinen Hähnchen. Seine Frau, die früher Futtereimer im Kälberstall schleppte, steht heute auf dem Gemüsefeld, Sonnenbrand inklusive. Bone ist inzwischen dem Biobauern- Verband „Naturland“ beigetreten und füttert nicht einmal mehr die Hähnchen mit gespritztem Getreide.

Bis zu den Knien steht Helmut Bone im Rotklee, der auf dem Feld neben der Hofzufahrt wächst. Er reißt eine Pflanze raus und zieht sie zwischen den Fingern durch. „Ich warne dich, hat der Jupp zu mir gesagt. Wenn du klagst, gehste kaputt... Aber ich bin nicht vor ihm gekrochen. Lieber geh' ich kaputt, hab' ich gesagt.“ Bone war der einzige, der einen Vertrag hatte. Kein anderer Lohnmäster konnte klagen. Es hätte sich wohl auch kein anderer getraut. „Hier rundum, die machen alle weiter. Die Ställe sind voll, die Kälber sind rund.“ Kein Lohnmäster redet mehr mit Bone — „ist denen verboten“. Und keiner, außer Bone, traut sich zu reden, über „diese Mafia, diese Wirtschaftsverbrecher, die hier die Leute kaputtmachen“. Und der Prozeß gegen Hying? „Ein Schauprozeß“, lacht Bone bitter, „alle anderen machen dasselbe.“

Neben Brüninghoff hat sich der Skandal vor allem für Klaus Matthiesen gelohnt. „Nordrhein-Westfalens Landwirtschaftsminister gewinnt Profil“, lobte die 'Zeit‘ auf der Höhe des Hormonskandals und sah in dem „Mann für alle Ställe“ schon den nächsten Ministerpräsidenten. Die Borkener Bauern sehen den Minister anders. Das große Kälberschlachten, das in jenem August gerade in vollem Gange war — und allein 8.000 Hying-Kälbern das Fell über die Ohren zog —, erschien den Landleuten „bloß wie eine große Show“. In diesem Mai sprach das Oberlandesgericht Hamm dem ersten Hying- Lohnmäster, in dessen Kälbern keine Mastgifte gefunden wurden, Schadensersatz für fünf voreilig gemetzelte Tiere zu. Und nicht nur die Kleinen, frech haben auch die Großen Regreßforderungen im Millionenhöhe angekündigt.

„Die Kälber waren alle gedopt, alle. Wenn Matthiesen zahlen muß, dann hat er auf voller Linie versagt“, meint Bone düster, „dann isser gescheitert.“ Was Scheitern heißt, hat — anders als der Minister — in den letzten drei Jahren manch kleiner Lohnmäster bitter erfahren müssen. Viele Bauern rund um Borken mußten aufgeben, auch einem Freund der Bones wurde der Hof zwangsversteigert. „Mit Politik“, sagt Helmut Bone und blinzelt im tiefgelben Licht der Abendsonne, „will ich nichts mehr zu tun haben.“ Es fehlt wohl auch die Zeit dazu. Um vier heute früh ist der Mann losgefahren, um eine Partie Bio-Hähnchen in Hannover zu verkaufen. „Und jetzt“, sagt er und reibt sich mit seiner rechten Hand die leicht geröteten Augen, „muß ich nochmal nach den Kücken gucken.“ Bettina Markmeyer, Ramsdorf