Zurück in die Zukunft

Steffi Graf schlägt Gabriela Sabatini denkbar knapp mit 6:4, 3:6, 8:6/ Sie gewinnt damit zum dritten Mal nach 1988 und 1989 die Meisterschaft von Wimbledon und feiert Wiedergeburt  ■ Aus Wimbledon Michaela Schießl

Es gibt Menschen, die zahlen einem Psychiater ein Vermögen, um sich selbst zu finden, und es gibt solche, die bei derselben Übung ein Vermögen verdienen. Steffi Graf gehört zur zweiten Gruppe. Um 648.000 D-Mark reicher und geheilt stieg die 22jährige am Samstag nachmittag von ihrem gräsernen Therapiesofa: Gerade hatte sie Gabriela Sabatini 6:4, 3:6, 8:6 besiegt und dadurch Wimbledon, vor allem aber ihr verlorenes Selbstvertrauen wiedergewonnen. „Ich habe es unbedingt für mich gebraucht, wieder zu siegen“, und damit die Therapie auch wirklich anspricht, mußte es schon Wimbledon sein, die inoffizielle Weltmeisterschaft der Tennisspieler: „Wimbledon, das ist das Größte.“

Die Größte unter den Großen zu sein, war jahrelang Steffi Grafs täglich Brot. Zweimal schon — 1988 und 1989 — gewann sie dieses Filetstück unter den Turnieren. 1988 gelang ihr der Grand Slam, als sie auch die US-Open, Australian Open und French Open gewann. Hinzu kam der Olympiasieg. Steffi Graf unbesiegbar.

In der Zwischenzeit begannen jedoch die anderen Spielerinnen, Grafs Stärken zu kopieren. Unvermutet hatte sie Konkurrenz bekommen. Dazu platzte eine schwere Krise in ihr Leben, als ihr rosaroter Sozialkokon in der Öffentlichkeit zerfetzt wurde — die breitgetretenen Unterleibsverfehlungen ihres allgegenwärtigen Vaters wirkten sich direkt auf Steffis Schlagarm aus. Sie begann zu verlieren. Zunächst kleine Turniere, dann die wichtigeren, schließlich die Weltranglistenspitzenposition an Monica Seles. Hart knallte sie am tiefsten Punkt auf, als sie bei den French Open 1991 Arantxa Sanchez-Vicario unterlag, mit 0:6, 2:6.

Jetzt lernte die jahrelang auf Titelblättern Gefeierte zu kämpfen. Gegen sich selbst zunächst, gegen ihre Vorstellung von einer heilen Welt voller Menschen, die ihr nur Gutes wünschen. Dann gegen ihre enge Verbundenheit mit dem Vater, der sich des Skandals wegen rar machen mußte. Immer öfter sah man sie allein auf Turnieren; endlich auf dem Platz. Sie trainierte härter als je zuvor, probierte neue Schläge, kehrte schließlich wieder zu ihrer alten Stärke, der schnörkellosen Vorhand zurück. Steffi Graf spielte wieder Tennis wie früher. Doch sie ist nicht mehr die Alte. Erstmals feierte sie einen Sieg allein. Statt wie gewohnt nach dem Matchball zum väterlichen Kuß an den Spielfeldrand zu eilen, badete sie in den standing ovations. Gebrauchtwagenhändler Graf mußte ersatzweise seine Frau küssen.

„Dieser Sieg ist der drittwichtigste in meiner Karriere“, urteilte Steffi Graf glücklich. Wichtiger war nur der erstmalige Wimbledon- und der erste French-Open-Sieg. Doch ihr Comeback hing am seidenen Faden. Zwar gewann Steffi Graf den ersten Satz gegen die 21jährige Argentinierin mit 6:4, doch danach ging ihr erster Aufschlag flöten. Offenbar hatte sie sich mehr ans Jagen gewöhnt als ans Gejagtwerden: Zweimal breakte sie im zweiten Satz Sabatinis Aufschlag, mußte jedoch postwendend die Re-breaks hinnehmen. Viel zu viele Fehler schlichen sich ein. Sie war um zirka zehn Zentimeter übermotiviert. Etliche Vorhandpeitschen landeten hinter der Auslinie. Statt in die Ecken zu spielen, spielte sie der am Netz angreifenden Sabatini fast direkt auf den Schläger. Diese breakte, die Gunst der Stunde mit variantenreichem Spiel nutzend, kurzerhand zum 4:2 und gewann den zweiten Satz mit 6:3.

Der dritte Satz bot ein ähnliches Bild, wenn auch interessanteres Tennis. Steffi Graf begab sich, immer noch auf der Suche nach dem Aufschlag, ab und zu zum Volley ans Netz, doch auf den von Sabatini herzerfrischend demonstrierten durchgezogenen Rückhand-Topspin wartete man vergeblich. Steffi spielte Slice bis zum Abwinken. Einem frühen Break zum 2:0 folgte ein Re- Break von Sabatini. Die „gräflichen“ Träume vom Titelgewinn waren fast dahin, als Sabatini ein Durchbruch um 5:4 gelang — durch einen Doppelfehler von Graf, der sogleich das Glück zu Hilfe eilte. Per gemeinem Netzroller glich sie zum 5:5 aus.

Und der Krimi ging weiter. Steffi haute alles ins Aus, Sabatini breakte erneut und schlug zum zweiten Mal zum vermeintlichen Matchgewinn auf. Wieder lief Graf, in die Enge getrieben, zu einsamer Hochform auf. Von einem genialen Ballwechsel war Sabatini derart geschockt, daß sie das Spiel abgab. Steffi ging mit 7:6 in Führung, erarbeitete sich zwei Matchbälle und nutzte den ersten zum 8:6.

Ein Luftsprung, die Hand schoß in die Höhe, die Tränen aus den Augen. Steffi Graf war wiedergeboren. „Hohes Niveau war das nicht“, fand die Auferstandene später. 31 Spiele, davon dreizehn Breaks, da ruft das Aufschlagtraining. Aber nicht mehr heute. Nichts wie weg aus dem Rummel, sofort und hurtig mit den Eltern heim. Pünktlich zum Champion's Diner am Sonntag sei sie wieder da, bevor sie in Urlaub gehe, verkündete sie strahlend, und entschwand, den triumphierend grinsenden Vater und die stolze Mutter am Arm, zurück in den Kokon von Brühl.

Frauen-Doppel, Finale: Larissa Sawtschenko/ Natalja Zwerewa (UdSSR) — Gigi Fernandez/ Jana Novotna (USA/CSFR) 6:4, 3:6, 6:4

Doppel, Finale: John Fitzgerald/Anders Jarryd (Australien/Schweden) — Javier Frana/Leonardo Lavalle (Argentinien/Mexiko) 6:3, 6:4, 6:7 (7:9), 6:1.