Die Einfaltspinsel vom Gruselreaktor Ignalina

In Litauen steht eines der größten Atomkraftwerke der Welt vom Reaktortyp RBMK-Tschernobyl — Impressionen von einer Besichtigungstour  ■ Von M. Forter/P. Tschudin

„Atomenergie ist etwas Großartiges für die Menschheit“, sagt Anatoly Vanovitsch Khromchenko, seines Zeichens Chef zweier Atomreaktoren vom Typ RBMK, bekannter unter dem Namen Tschernobyl-Reaktor. Die beiden Reaktoren IgnalinaI und Ignalina II im Osten der baltischen Republik Litauen sind mit einer Leistung von 1.500 Megawatt die größten ihrer Klasse in der Welt. Khromchenko hätte noch gerne einen dritten 1.500-Megawatt-Reaktor unter seine Obhut genommen. Doch dieser Block schaffte es nicht bis zur Vollendung. 300 Millionen Rubel hätten sie verloren, weil „die Öffentlichkeit die Atomenergie nicht versteht“, meint der AKW-Direktor. Hat dieser Baustopp nicht etwa mit der Katastrophe von Tschernobyl zu tun, mit der Explosion eines Reaktors desselben Typs? „Nein“, antwortet Khromchenko knapp. Wahrscheinlich aber doch: Das Ereignis von Tschernobyl hat auch die LitauerInnen aufgerüttelt.

Die beiden Reaktoren inmitten einer wunderschönen Seen- und Waldlandschaft wurden auch Ziel einer erstarkenden Ökologiebewegung in Litauen: AKW-GegnerInnen blockierten immer wieder die Zufahrtswege. Unter diesem Druck gab Moskau nach, ein Baustopp für BlockIII wurde verfügt. Khromchenko ist nicht einverstanden: „Damals sagten die Gegner, wir hätten technische Probleme: Der See, mit dessen Wasser wir unsere Reaktoren kühlten, sei zu klein und es bestehe die Gefahr, daß der Boden unter den AKW einbreche. Aber dies alles ist nicht wahr.“ Khromchenko beruft sich auf die Aussagen sowjetischer Wissenschaftler. Dennoch, der Fertigstellung von Block III ist ein Riegel vorgeschoben. Aber viele in Litauen sähen es gerne, wenn auch BlockI und II stillgelegt würden. Das Reaktorunglück von Tschernobyl und die Angst, daß es sich wiederholen könnte, beunruhigt viele Litauer.

Für Direktor Khromchenko ist klar, daß sich in seinen AKWs das Desaster von Tschernobyl nicht wiederholen kann: „Vom Grundaufbau sind es die selben Reaktoren wie in Tschernobyl — aber wir haben die bessere Ausrüstung.“ Zudem seien nach der Katastrophe umfangreiche Maßnahmen getroffen worden, um die Reaktoren sicherer zu machen. Die Hauptursache für den Meilerbrand in der Ukraine seien technischer Natur gewesen. Erst auf Nachfrage erwähnt der überzeugte Atomiker Khromchenko die in Tschernobyl vorgenommenen Experimente, bei denen das Notkühlsystem ausgeschaltet wurde. Gab es solche Experimente auch in Ignalina? Der AKW- Direktor winkt ab: „Uns haben die Wissenschaftler aus Moskau solche Experimente vorgeschlagen, aber wir haben abgelehnt, da wir sahen, daß sie lächerlich sind. Außerdem wären sie in Modellen simulierbar gewesen.“ Auch in Ignalina führte die Belegschaft in wissenschaftlichem Auftrag Versuche durch: „Diese Programme sind aber nicht gefährlich“, stellt der Ignalina-Chef klar. Menschliches Versagen ist für ihn bei seinen Reaktorblöcken ausgeschlossen.

Ignalina I wurde 1983 in Betrieb genommen, BlockII folgte 1987. Von ihrer Leistungskapazität her sind die Ignalina-Reaktoren ja eigentlich weltweit die größten ihres Typs; ursprünglich hätte das AKW 30 Jahre lang 1.500 Megawatt produzieren sollen. Doch technische Probleme im Reaktorkern verhindern das: „Wenn wir sie voll hochfahren würden, hätten die Reaktoren nur eine Lebensdauer von zwölf Jahren. Darum produzieren wir nur 1.250 Megawatt. Dann halten sie 30 Jahre“, sagt der AKW-Chef.

Die Feuerlöschspritzen im Turbinenraum scheinen dieses Alter schon erreicht zu haben. Den Wasserhahn müßte die Feuerwehr im Notfall erst einmal öffnen, um das Wasser auf die Turbinengruppe spritzen zu können. Automatisch läuft nichts. Da bei den Tschernobyl-Reaktoren das Kühlwasser direkt auf die Turbinen geleitet wird, wären die Feuerwehrleute beim Löschen radioaktivem Dampf ausgesetzt.

Angesichts derartiger Sicherheitsvorkehrungen nimmt es kaum Wunder, wenn in den Gängen der Reaktorgebäude zwei Putzfrauen radioaktiven Staub mit Lappen und Eimer aufnehmen. Türen, die für jedermann sichtbar nicht dicht schließen, sollen diesen Staub fernhalten, etwa vom Kontrollraum. Kommentar eines Mitarbeiters der Technischen Universität Kaunaus zu den Computern im Steuerzentrum von BlockI: „Wir haben diese Geräte bei uns im Institut schon lange weggeworfen.“

Den Eingang zum Reaktorraum markiert eine große „Sicherheits“- Stahltür — sie ist offen. Im Türbogen steht am Boden ein Bleckbecken mit einem Lappen und Wasser drin — zum Reinigen der Schuhe. Wir treten in die Reaktorhalle ein, gehen auf einem Boden, der mit kleinen Metallquadraten ausgelegt ist. Darunter befinden sich die Brennelemente, werden Atome gespalten. Rechts vom Eingang der riesige Kran, mit dem die Belegschaft die Brennelemente auswechselt. Ein solcher Kran zerstörte damals den Reaktorkern in Tschernobyl endgültig, als er auf den Stahlboden donnerte. Links an der Wand zwei Lampen, die eine rot, die andere — sie leuchtet — grün. „Solange die grüne Lampe leuchtet, ist in Sachen Radioaktivität alles okay.“ Und wenn die Lampe auf rot schaltet? Schließt sich dann die Stahltür von alleine und wir sind in der Reaktorhalle eingeschlossen? Im Grunde möchten wir das gar nicht mehr genau wissen, wir wollen lieber raus...

Am Ausgang sagt unser Führer, ein Ignalina-Angestellter, plötzlich zu uns: „Ich habe einen Freund, mit dem ich dieselbe AKW-Operateurschule besuchte. Er unterweist in Kiew die neuen Operateuere. Am Morgen nach dem Unfall war er in Tschernobyl im Kontrollraum.“ Unser Führer wird nachdenklich, „es ist schlimm — es ist schlimm für ihn und seine Familie.“