Luftaufklärer von Tschernobyl

Zwei ehemalige sowjetische Atomphysiker gründeten eine ausgesprochen rührige Privatfirma, um der Wahrheit über die ökologische Situation um Tschernobyl auf die Spur zu kommen  ■ Von Barbara Kerneck

„Wieviel Röntgen strahlen heute auf ihrem Hof?“ — Wenn sich die Einwohner aus Gomel, Brjansk oder anderen überdurchschnittlich von der Tschernobyl-Katastrophe betroffenen Orten in Weißrußland und der Ukraine auf diese Frage jetzt mehrmals wöchentlich eine neue und aktuelle Antwort erhoffen können, so haben sie dies Boris Werbizkij und Boris Reut zu verdanken. Mit ihrem mit Spezialgerät vollgepackten Aufklärungsflieger durchkämmen die beiden das Umland der „Zone“ und erstellen Strahlungskarten, die mit vielen mehr oder weniger dunklen Punkten Licht in die finstere Informationslage bringen. Dazu legen sie ein Meßraster mit einem Punktabstand von nur sechs Metern über das Land, macht 25 Werte für ein mittleres bäuerliches Anwesen von 900 Quadratmetern.

Für jeden Punkt, von der Türschwelle bis zum Brunnen, können die Bauern auf einer die Meßkarte begleitenden Tabelle den stündlichen Mikroröntgenwert bis auf ein Zehntel hinter dem Komma ablesen. „Am schwärzesten Punkt liegt die Ziffer bei über 200“, erklärt Boris Werbizkij. Menschen dürften sich hier eigentlich nicht über längere Zeit aufhalten; geschweige denn ständig dort leben. Die Meßapparaturen des fliegenden Laboratoriums erlauben es sogar, die Strahlung in verschiedenen Höhenschichten aufzuschlüsseln. So gibt es erhebliche Unterschiede der Strahlungsintensität zwischen den Wurzeln und der Krone eines Baumes. Dieses Beispiel zeigt, was von offiziellen Kontaminationskarten zu halten ist, auf denen auf der Basis von zehn Messungen die „Durchschnittsstrahlung“ für ganze Siedlungen deklariert werden.

Schon in der Schule waren Boris & Boris Freunde, und schon damals zog es sie in die Lüfte. Mit 16 Jahren schlossen sich die beiden einem Hobbyfliegerclub an. Zwischen ihrer Jugendbegeisterung und ihrer heutigen Dauerbeschäftigung absolvierten sie ein ganzes Arbeitsleben als Atomphysiker. Nach der Katastrophe von Tschernobyl leitete das Duo jahrelang Aufräum- und Reparaturarbeiten auf dem Reaktorgelände. Die vergleichsweise fürstliche Entlohnung für diese gefährliche Tätigkeit hielten sie beisammen, um mit diesem durch außergewöhliches Know- how angereicherten Kapital der Ökologie schon zu Lebzeiten vom Himmel herab dienen zu können.

Die staatlichen Stellen entwickelten für so viel Eigeninitiative wenig Gegenliebe. „Auch wenn wir einige Rosinen unter unseren Apparaturen haben, ist unsere Methode doch nicht so einzigartig, daß sie nicht auch von einem normalen Wetteramt hätte entwickelt werden können“, meint Boris Reut. Mit allen notwendigen Genehmigungen und „Begleitzahlungen“ hätte die Realisierung im Rahmen einer wissenschaftlichen Institution oder einer Behörde allerdings viel länger gedauert, bei gleichzeitig unvergleichlich höheren Kosten. Ob die beiden Luftaufklärer überhaupt je Erlaubnis bekommen hätten, beispielsweise einen eigenen Bordcomputer zu betreiben, ist keineswegs sicher. Die tollkühnen Privatunternehmer Boris & Boris fragten erst gar nicht um Erlaubnis für die Ausstattung ihrer fliegenden Kisten: Ihre Resultate drucken sie gleich im Cockpit aus.

In Dnjepropetrowsk gründete im letzten Okotober der unabhängige sowjetische „Fonds für soziale Erfindungen“ auf ihre Anregung das Wissenschaftszentrum „Skif“, das heißt „Skythen“. Die „Skythen“ nennen sich Boris & Boris auch nach Feierabend, dem antiken Reitervolk zu Ehren, das unter anderem die Dnjepr-Region unsicher machte. Gefallen hat ihnen die legendäre Konfliktschlichtungsmethode der Skythen: Man trinkt miteinander, so lange, bis Meinungsverschiedenheiten beigelegt sind. Ihre eigene Firma heißt allerdings „Aeroekos“ und stützt sich seit der Gründung um die Jahreswende in Moskau auf eine Kapitaleinlage der internationalen Organisation „Tschernobyl-Hilfe“; die Abkürzung steht für „Luft, Ökologie und Kosmos“.

„Wenn es darum geht, in den ersten zwei bis drei Stunden nach Eintreten einer ungewöhnlichen Strahlungssituation, also etwa nach dem Reaktorleck, den Überblick zu gewinnen, dann sind wir weltweit unschlagbar“, glauben die beiden Atomphysiker ohne falsche Bescheidenheit. „In drei Stunden können wir einen Quadratkilometer untersuchen und zum Beispiel strahlende Materialbrocken nach Explosionen genau orten.“ Gerade ihre Schnelligkeit hat „Aeroekos“ die ersten Daueraufträge von Städten und Gemeinden in Weißrußland und der Ukraine beschert: „Die Politiker müssen sich mit den Bürgern heute über die Situation auseinandersetzen können und nicht über das, was vor einem halben Jahr gewesen ist“, sagt Boris Reut. Auch das staatliche Wissenschaftszentrum „Pripjet“, Hausherr des Tschernobyl-Geländes, zeigte sich von der Kompetenz der „Skythen“ sehr beeindruckt und schloß mit der Firma „Aeroekos“ einen Exklusivvertrag ab.

Die mittlerweile 15 festen Mitarbeiter des Unternehmens fungieren als Leiter verschiedener Projektgruppen, für deren zeitlich begrenzte Aufgaben sie sich Vertragsmannschaften suchen. Auch mit den Piloten werden Zeitverträge abgeschlossen. Gemietet sind auch die beiden Flugzeuge, von denen eine I-410 um Tschernobyl herum operiert, die größere AH-30 neuerdings von Novosibirsk aus im fernen Osten. „Die haben wir schon so weitgehend umgebaut, daß sie zu keinen anderen Zwecken mehr taugen und man sie nur noch uns überlassen kann“, fügt Boris Werbizkij augenzwinkernd hinzu. Strahlenverseuchungen sind nicht das einzige Objekt des Unternehmerduos: „Wir haben Programme zur Lokalisierung von Wärmestörungen, auch zur Analyse chemischer Verschmutzungen oder zur Lokalisierung von Grundwasserströmen.“ Die Apparaturen an Bord wurden ursprünglich für die Fernaufklärung mit Satelliten entwickelt: ein Strahlungsmesser, ein hochauflösendes Spektrometer, eine Infrarotkamera und eine hochempfindliche Fernsehkamera, deren Bilder dem menschlichen Auge die Interpretation der übrigen Daten erleichtern. Doch die „Skythen“ experimentieren weiter, zur Zeit mit UV- und Röntgenstrahlen und mit Plasmaspektrometern, die in einer halben Sekunde bis zu neun verschiedene chemische Komponenten der Luft analysieren können.

Zur Erfüllung ihres großen Traums fehlen Boris Reut und Boris Werbitzkij trotzdem noch ein paar Apparaturen aus dem Westen: Allzu gern würden sie dahinterkommen, was es mit dem sagenhaften „tungusischen Meteor“ auf sich hatte, der im Juni 1908 in Mittelsibirien einschlug. Wieder und wieder reisten sie zur nächstgelegenen Siedlung Wanowary. Max-Planck-Institute, Universitäten und auch Privatfirmen, die sich an einer entsprechenden Expedition beteiligen wollen, sind jedenfalls herzlich eingeladen.

Inzwischen machen sich die „Skythen“ Gedanken über allgemeinen Katastrophenschutz, beschäftigen sich mit Ernteprognosen und untersuchen Luftturbulenzen oder Ozonschicht- und Sonneneinstrahlung über den verschiedensten Orten der Sowjetunion. Der Moskauer Stadtsowjet interessiert sich für ein System zur permanenten Kontrolle der Luft in der Sowjetmetropole auf toxische, chemische oder radioaktive Stoffe — ausnahmsweise nicht vom Flugzeug aus, sondern mit beweglichen Schirmen, die an etwa acht Punkten auf erhöhten Plattformen um die Peripherie der Hauptstadt herum zu installieren wären. Im Osten Sachalins analysiert das rührige Kleinunternehmen die Erdölbasen und auf Kamtschatka die Vulkane. Kürzlich hat Leonid Nowak, der auch international renommierte Vorsitzende des „Ökologielaboratoriums Sachalin und Kamtschatka“ der sowjetischen Akademie der Wissenschaften die Firma Aeroekos eingeladen, dort eine Filiale zu eröffnen. Untersucht werden sollen unter anderem Wanderungen der Meerestiere.

Nach wie vor unausweichlichen Zusammenstößen mit der Bürokratie sehen Boris & Boris gelassen entgegen: „Sie machen uns schon das Leben schwer — aber wir ihnen auch!“