Antiautoritäre Revolte von rechts?

Nachrichten aus dem Beitrittsgebiet  ■ Von Michael Rutschky

Neulich haben wir eine richtige Genreszene beobachtet. Das war in Brandenburg, bei einem der Ausflüge, die viele Westberliner jetzt in die Umgebung machen, seit sie nicht mehr DDR heißt, und bei denen es herauszufinden gilt, in welcher Umgebung wir uns eigentlich befinden.

In Brandenburg, hinter der Katharinenkirche, einem imposanten gotischen Ziegelbau, der schon restauriert wird, also diese Horde kahlgeschorener, rosig-feister Jungmänner in schweren Stiefeln, die einfach noch nicht genug Büchsen Westbier intus hatte, um zum Hitlergruß anzutreten. Aber bald wären sie so weit. Und um die Ecke, wo der Markt abgehalten wird, Obst, Gemüse, Blumen, Backwerk — wir kauften bei einem braungebrannten alten Gärtner einen dicken Strauß Margeriten —, auch zwei dünne Vietnamesen, die hurtig Schmuggelzigaretten zu Billigpreisen anboten, um ihrerseits ein paar Mark zu machen, sorgsam die Lage sichernd, ob die Horde um die Ecke schon zum Zuschlagen bereit sei, worauf sie, worin sie gut geübt sind, fliehen müßten.

Was wir sahen, meinten wir schon gesehen zu haben, denn wir waren durch die allgemeine Berichterstattung darauf vorbereitet. Aus welchen Gründen immer machen sich in den neuen Ostprovinzen Rechtsradikale, Neonazis, Hooligans, Skinheads breit; in der Mehrzahl junge Arbeitslose, die, von Gesinnungsgenossen aus den Westprovinzen agitiert und organisiert, an die Tradition des proletarischen männerbündischen Faschismus der zwanziger Jahre anknüpfen, wie ihn Ernst Röhms SA verkörperte. Sie randalieren bei Fußballspielen, jagen und mißhandeln Ausländer — es hat schon Tote gegeben — und sind insgesamt eine recht widerwärtige Begleiterscheinung der deutschen Vereinigung, von der nicht ganz klar ist, wie man sie noch zur Erblast des SED-Regimes erklären könnte. So die allgemeine Einschätzung.

Eine andere hat Ah., Anfang 40, ein Lehrer aus Westberlin, der schon bald in die Mark Brandenburg gegangen war, um sich nützlich zu machen. Er hat an diversen Schulen unterrichtet, Berufsberatung und Lehrerfortbildungskurse gehalten, Einzelheiten tun nichts zur Sache. Ah. ist zu der Überzeugung gekommen, daß über kurz oder lang in der ehemaligen DDR eine Jugendrevolte losbrechen werde, vergleichbar der antiautoritären Revolte in der Bundesrepublik, die unter dem Stichwort „'68er“ nicht nur in die Geschichte sondern auch in die Mythologie eingegangen ist und tatsächlich erhebliche Umwälzungen bewirkt hat, nicht allzu weit entfernt von den damals erwünschten — aber das wäre ein anderes Thema.

Eine zentrale Voraussetzung für eine solche Revolte bilden die Lehrer. Ah. kann eindringlich schildern, wir verwirrt gerade diejenigen in der ehemaligen DDR sind, die man zu den engagierten Lehrern rechnen muß. Selbst wenn sie das SED-Regime und die Stasi-Überwachung immer schon mehr-minder laut kritisiert haben, es verbindet sie immer noch eine tiefe Loyalität damit, einfach weil dieser Sozialismus ein pädagogisches Unternehmen war, das auf die grundsätzliche Erziehbarkeit und Umerziehbarkeit des Menschen setzte, und daran glauben auch engagierte Lehrer, schon aus Berufsgründen.

In seinen Fortbildungskursen, erzählt Ah., habe er Fragen zu beantworten wie: Was ist Wahrheit? Kann man, ohne die Wahrheit zu wissen, überhaupt Erziehungsarbeit leisten? Kann man ohne feste Werte erziehen? Aber worauf soll man sie begründen? — Ein drastisches Beispiel: Es passe ihm alles gar nicht, habe eines Tages einer der Teilnehmer geklagt, früher habe er seine Schüler zum Gehorsam gegen Erich Honecker und die SED erziehen müssen, jetzt sei er verpflichtet, sie zum Gehorsam gegen Helmut Kohl und die CDU zu erziehen. „Was?“, erzählt Ah., habe er fassungslos zurückgefragt, „Sie erziehen Ihre Schüler zum Gehorsam gegen Helmut Kohl? Wie machen Sie denn das?“

Es leuchtet ein, daß im Zuge einer solchen Lehrerverwirrung die Bereitschaft der Schüler zur Rebellion wächst. Und Ah. hat sich an den Gedanken gewöhnen müssen, daß die Parolen der Revolte, die sich ja auch gegen das Regiment der Westdeuschen richten werde, keine linken, sozialistischen sein können, sondern rechte, nationalistische sein müssen. Ich habe die Hooligans hinter St. Katharinen daraufhin zu lesen gewußt, als Protagonisten der künftigen Entwicklung, so widerwärtig der Gedanke ist.

Die Speerspitze der Bewegung, meint Ah., können sie natürlich nicht bilden, junge Arbeitslose mit dem Kopf voll Bier, zur ziellosen Gewalttätigkeit neigend. Wie bei der westdeutschen Revolte vor zwanzig Jahren müssen die Protagonisten beredt sein; nur insofern können sie mit der öffentlichen Aufmerksamkeit rechnen. Schon jetzt ist es ja vor allem diese Aufmerksamkeit, die den rechtsradikalen Jugendlichen die Folgen ihrer Auftritte sichert. Ohne Fotografen und Kameraleute, Zeitungen und Fernsehen wären sie inexistent. Aber es darf nicht beim einfachen Krawall bleiben; der ist bald kein Thema mehr.

Der Sozialismus ist als Gedankengut für die Rebellen unverwertbar, weil er die abgeschiedene Vergangenheit repräsentiert, von der sich die Ostprovinzen getrennt haben, indem sie die DDR liquidierten. Wer sich dort als Jugendlicher heute für den Sozialismus interessiert, dessen Vater ist meist Funktionär gewesen oder wenigstens Kulturschaffender, und der Sohn hat die Privilegien zu verteidigen, die er in der DDR genoß. Aus diesem Stoff läßt sich kein Funken schlagen, an dem sich eine Revolte entzünden könnte.

Der Nationalismus dagegen reizt schon allein deshalb, weil er verboten, sogar der Inbegriff des Verbotenen ist. So wie die Kinder der Achtundsechziger — und er habe sie, so Ah., ja in Westberliner Schulen erlebt — gegen die egalitären und milde sozialistischen Überzeugungen ihrer Eltern die Freuden des Markenartikelkonsums und des schnellen Geldverdienens entdeckten, so können die Kinder des DDR-Establishments sich des Deutschtums in allen Facetten bemächtigen und damit die Generation ihrer Eltern und Lehrer, aber natürlich auch die entsprechenden Kreise Westdeutschlands in Verwirrung und Aufruhr stürzen. Dies sei schon heute ein gut hörbarer Einwand gegen das Westregiment, nicht nur bei Jugendlichen: daß die Westdeutschen allzu „verwestlicht“ sind, die Bürger in der DDR hingegen dem wahren Deutschtum irgendwie näher geblieben.

Einen Vorgeschmack vom Wirkungspotential des Nationalismus hat die Wiedervereinigung ermittelt. „Deutschland einig Vaterland“: unter dieser Parole hat sich nicht nur „das Volk“ gegen den SED-Apparat erfolgreich versammeln, „das Volk“ hat damit auch die political class der Bundesrepublik so gründlich unter Druck setzen können, daß sie ihrerseits die Wiedervereinigungsbestrebungen forcieren mußte, gegen alle vernünftigen Einwände. Die antiautoritäre Jugendrevolte von rechts, so Ah., wird also an eine erfolgreiche Vorgeschichte anknüpfen können. So wie die Jugendrevolte im Westdeutschland der sechziger Jahre an Liberalitätspotentiale anknüpfte, die unsere Institutionen, wie sich zeigte, tatsächlich enthielten. Und der Kampf gegen den amerikanischen Krieg in Vietnam konnte ja Amerika selber, dem wir die liberale Kolonisierung Westdeutschlands verdanken, gegen Amerika ins Spiel bringen; aus den USA stammten sämtliche Formen des antiautoritären Protests.

Eines verstehe sie aber nicht, wendet Beh. gegen die Ausführungen Ah.s ein, denen wir alle atemlos und schockiert gefolgt sind — wir befinden uns, wie deutlich sein wird, in einem dieser Zirkel, wo die Unterhaltungen deutscher Intellektueller typischerweise stattfinden —, sie verstehe nicht, wie Ah. die anstehende Jugendrevolte im Osten „antiautoritär“ nennen könne. Die rechtsradikalen Skindheads in Brandenburg und anderswo erfüllen doch aufs Haar den Typus der „autoritären Persönlichkeit“, wie ihn Adorno in der klassischen Studie dargestellt hat. Es muß ihnen bloß eine Autorität entschlossen entgegentreten, dann geben sie klein bei und lecken Stiefel. Die ostdeutsche Polizei kann diese (staatliche) Autorität bloß noch nicht verkörpern.

Er wiederhole sich, antwortet Ah. herablassend. Er habe schon gesagt, daß diese feisten, rosigen Biertrinker nicht die Avantgarde sein würden. Ihre Bereitschaft zur Gewalttätigkeit könne irgendwann einmal für die anstehende Revolte nützlich sein, so wie auch der westdeuschen Studentenbewegung plötzlich die Gewaltbereitschaft ganz anderer Kader zuwuchs.

Im übrigen sollen wir uns erinnern, daß der deutsche Nationalismus im 19.Jahrhundert sehr stark von antiautoritären Impulsen geprägt war, eine Jugendbewegung. Sie richtete sich gegen das Establishment, das vom heiligen Römischen Reich übriggeblieben war (und gegen die napoleonische Idee einer staatlichen Zentralvernunft — aber das wäre wieder ein anderes Thema). Noch Hitler und die Nazis haben antiautoritäre Impulse freizusetzen und auszubeuten gewußt; „der Führer“ trug immer mehr Züge eines hysterisch-brüderlichen Genossen als die eines Patriarchen.

Aber das, schließt Ah. und betrachtet gefaßt unsere erschreckten Mienen, ist auch gar nicht so wichtig. Die jungen Rebellen werden schon herausfinden, welche Traditionsbestände sie wie bei ihren Kämpfen zum Einsatz bringen können. Jedenfalls werden sie dafür sorgen, daß das Deutschtum auf der Tagesordnung steht; vor allem im Westen, der so gar nichts vom Osten wissen will.