DEBATTE
: Liberalität und Selbstbindung

■ Der Paragraph 218 und das Problem der fehlenden öffentlichen Moral

Die meisten ausländischen Beobachter, die im Gefolge der siegreichen Alliierten durch das geschlagene Deutschland reisten, bemerkten verstört, wie wenig moralische Substanz in den Menschen steckte, und notierten die Unfähigkeit der Deutschen, selbst nach dem Zusammenbruch des totalitären Regimes von sich aus eine Unterscheidung zwischen Gut und Böse zu treffen.

Moralische Wüste — fehlende Liberalität

Die moralische Wüste, die Unfähigkeit, sich dem „tatsächlich Geschehenen zu stellen und sich damit abzufinden“ (Arendt) und, das ist das Wichtigste, eine Sprache dafür zu finden, das alles hat die Bildung eines demokratischen Diskurses verhindert, aufgrund dessen sich andere moralische Maßstäbe als die traditionell deutschen hätten herausbilden können. Traditionell deutsch ist eine Politik, die die Würde des Menschen und internationale Konventionen zu deren Schutz nicht besonders hoch achtet. In der praktischen Politik nicht, handle es sich nun um den Ersteinsatz von Giftgas im Ersten Weltkrieg oder auch um die Vernichtungspolitik des Dritten Reiches gegen seine Feinde. Und im geistig- kulturellen Überbau nicht, denn das Land, in dem ein Lessing oder ein Kant lebten, brachte doch nie eine geistig-kulturell bestimmende Schicht von Politikern und Intellektuellen hervor, die kollektivistisch- säkularen Ideologien gegenüber widerständig gewesen wäre. Dem Ruf des Vaterlandes, und sei es auch das der Weltrevolution, vermochten sich die allermeisten eben nicht zu entziehen. In der Nachkriegszeit konnte die Kategorie des Eigennutzes dank westalliierter Nachhilfe zu stärkerer Bedeutung gelangen. Jedoch folgt auch der Eigennutz einer Logik, die von außen die Politik auflöst, allerdings indem sie sie utilitaristischen Gesichtspunkten unterwirft.

Es ist typisch, daß hierzulande die Qualität der Politik daran gemessen wird, ob und wie sie den Eigennutz übersteigt und einer, emphatisch verstandenen, „Wahrheit“ zum Durchbruch verhilft. In dieser Deutschen Ideologie setzt sich die traditionelle Verachtung für die Individuen und öffentliche Moral fort. Denn sie bestreitet den Menschen das Recht, Entscheidungen zu treffen, ja oder nein zu sagen, „gut“ oder „böse“ zu sein. Aber gerade das, ihre Freiheit zum Unterschied, macht das Menschliche aus. Oder, wie es Hannah Arendt gesagt hat: „Die Mehrzahl ist das Gesetz der Erde.“ Und eben die Sphäre, in der sich diese Unterschiedlichkeit der Menschen artikulieren kann, ist die Politik. Hier ist der Ort, an dem sich so etwas wie eine öffentliche Moral bilden kann, die im freiwilligen Respekt für und vor dem Anderen besteht.

Wird dagegen die Politik den Ansprüchen einer höheren Wahrheit unterworfen, dann hat sie sich von einer Ebene, in der um Entscheidungen, die nicht auf dahinterliegende Wahrheiten rückführbar sind, und Ansichten, die in nichts als ihrer Unterschiedlichkeit gründen, gerungen wird, zum administrativen Nachvollzug einer höheren Wahrheit verwandelt. Folgerichtig wird das Individuum je nach dem auf das Gattungs-, Klassen- oder Geschlechterwesen — oder eben auf Volk und Rasse — zurückgeführt. Und als dieses feiert es im modernen Deutschland seit mindestens 130 Jahre ununterbrochene Siegeszüge.

Selbst 1968 und die Folgen, wiewohl sie die Öffentlichkeit durchlüfteten, vermochten das nicht zu ändern. Die vom Geist der Geschichte Umwehten pflegen weiterhin ihr hegelianischen Geschichtsbild, in dem für politische Moral kein Platz ist; andere trugen von außen an die Politik die unterschiedlichsten, aus verschiedenen Utopien abgeleiteten Moralen heran, aber sie entwickelten eben keine Moral, die Politik als eine autonome Sphäre der menschlichen Existenz respektierte. Die postmoderne Kritik an den Großideologien stellt wohl die Natürlichkeit einer für alle gültigen Sprache infrage, in der sich die Menschen in einer Gesellschaft über ihre Ansichten und Hoffnungen verständigen. Aber sie höhlt die Politik zum ästhetischen Dandytum aus. Und vor den „Entscheidungsfragen der Nation“ unterliegt der Zynismus des Dandy allemal.

Zwischen dem Pathos nationaler oder welthistorischer Dimensionen einerseits und „posthistoire“ auf der anderen, findet der moralische Diskurs der Gesellschaft über sich selbst in Deutschland nur in Nischen statt. Das war in der alten Bundesrepublik so, und das hat sich durch die evangelischere — und östlichere — neue Bundesrepublik nicht verändert. Im Gegenteil. Der demokratische Zuwachs aus östlichen Gefilden war eher natur- denn bürgerrechtlich. Allem Anschein zum Trotz. Und das „pastorale Mehr“ erweist sich eher in der Entpolitisierung der Moral als in einem Zugewinn an politischer Moral.

Ethisches Defizit und Paragraph 218

Nur an einzelnen Punkten wird auf einmal das ethische Defizit dieser Gesellschaft sichtbar. Einer davon ist, allein schon des unmittelbaren Handlungsbedarfes wegen, die Debatte um den Paragraphen 218. Darin vermischen sich zwei Problemkreise. Zum einen geht es um eine befriedigende „Lösung“ für den Konflikt der Frauen (und der dazugehörigen Männer) und die Möglichkeit einer Entscheidung, die ihre Würde respektiert. Hierhin gehören nicht nur die ethischen Fragen, sondern auch das Problem einer Gesellschaft, die immer älter wird und deren Kinderfeindlichkeit — bei allem gewandelten subjektiven Bewußtsein — sich auch darin ausdrückt, daß die reiche Bundesrepublik im EG- Vergleich an zweitletzter Stelle liegt, was die öffentlichen Aufwendungen für Kinder anlangt.

Der andere Problemkreis betrifft die Frage: Soll, und wenn ja, wie?, der moralische Anspruch in einer Gesellschaft durch Sanktionen garantiert werden. In bestimmten Hinsichten leben wir ganz selbstverständlich mit diesen Garantien. Mord wird ebenso bestraft wie Diebstahl. Aber die Debatte um auf Politik bezogene moralische Werte, die mehr sind als nur liberaler Garantismus, findet kaum statt. Im Gegenteil. Der eine Aspekt in der Debatte um den Paragraphen 218 blockiert auf der anderen Seite ausgerechnet das Gespräch zwischen den gesellschaftlichen Potentialen, die am ehesten so etwas in Gang bekommen könnten, nämlich zwischen denjenigen, die sich auf die katholische Ethik beziehen, und jenen verstreuten, aber zahlreichen laizistischen Linksliberalen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß die katholische Kirche in ihrer Gesamtheit sich noch immer nicht mit der Tatsache einer säkularisierten Welt abgefunden hat. Ihre Antwort auf diese Welt ist in den meisten Fällen integralistisch. Das „saeculum“ scheint in der Perspektive der katholischen Ethik tatsächlich eins mit der Aufgabe jeglicher Moral und einem schrankenlosen Individualismus. Bei aller Kritik, die man an dieser Perspektive üben kann, für Deutschland trifft sie einen noch immer richtigen Punkt.

Vom heute nicht mehr so lautstark vertretenen „Mein Bauch gehört mir“ bis hin zum ausschließlich ego- zentrisch begründeten Selbstbestimmungsrecht der Frau, in der die Abtreibung als „Notwehrrecht“ definiert wird, taucht ein ferner Widerhall jener ethischen Verfügbarkeit in der Vergangenheit auf. Dabei geht es nicht darum, das individuelle Verhalten zu qualifizieren, es geht um die Begründungen, die aufgebaut werden und als solche entweder dem Gewissen Raum geben oder eben nicht. Gewissen aber setzt voraus, daß die Planbarkeit des Lebens — oder die Selbstgewißheit des Ich — ihre Grenze an der Fremdheit des Anderen findet. Physische Vernichtung wie einfühlsame Entmündigung durch die modernen Sozialtechnologien heben diese Grenze des Ich auf — und damit auch den Zweifel. Der gründet darauf, daß es etwas gibt, das sich nicht auf die verstandesgemäßen Gewißheiten zurückführen läßt — gleich welchen Namen wir ihm geben: Gott, der Andere, Verantwortung. Es kann nicht verwundern, daß Vertreter der katholischen Ethik über jedes Denken beunruhigt sind, das diesen unauflöslichen Rest auszutreiben sucht. Es sollte jenen, die in der Abtreibungsfrage wohl zumindest pragmatisch richtig für die Trennung von Moral und Sanktion eintreten, vielmehr Anlaß zu der Erkenntnis sein: Nur in einer Gesellschaft, die in der Lage ist, öffentlich über moralische Grundsätze zu sprechen ohne den Anderen zu verteufeln, wird es möglich sein, mit guten Gründen dem Gewissen der Einzelnen vertrauen zu können — und öffentlich sanktionierte moralische Anforderungen an den Einzelnen zurückzunehmen. Selbstverantwortung würde immer die Verantwortung für den Anderen als unbegreiflich Fremden mit einschließen.

Überzeugend wird der Appell, der Verantwortung des Einzelnen Raum zu geben, erst dann, wenn nicht jede Verletzung der moralischen Standards mit dem Schrei nach mehr Sozialtechnologie des Staates beantwortet wird. Das würde von vornherein den vollständigen Verzicht auf die moralische Zumutung an den Einzelnen bedeuten. Selbstverantwortung — vor Gott, vor den Menschen, vor dem eigenen Gewissen — kann nur ungeteilt gelten. Ulrich Hausmann

In den nächsten Tagen wird eine Erwiderung von Barbara Duden erscheinen.