Angst vor einem Speckgürtel rings um Berlin

■ Brandenburger schrecken vor Berliner Umarmungsversuchen zurück/ Ein gemeinsames Land liegt im Interesse der Berliner, nicht aber der Brandenburger/ Alles könnte aus der Sicht der Zentrale beschlossen werden/ Entscheidung nicht vor 1992

Berlin/Potsdam. Noch vor einigen Wochen waren die Fronten klar. Da plädierten die Berliner Parteien und der Senat bei jeder sich bietenden Gelegenheit für die Fusion der Millionenstadt Berlin mit dem ländlichen Brandenburg. Die Brandenburger dagegen wehrten diese Umarmungsversuche ebenso rituell immer wieder ab. Noch auf einem Parteitag im Frühjahr beschloß die Landes-SPD mit großer Mehrheit einen Antrag, der sich »gegen die Zielstellung des Senats von Berlin« wendet, den »baldigen Zusammenschluß beider Länder durch Aktivitäten auf verschiedenen Ebenen politisch zu fördern und Teilergebnisse zu institutionalisieren«. Jürgen Linde, der Chef der Brandenburger Staatskanzlei stieß noch einen Tag vor der Bundestagsentscheidung über die Hauptstadtfrage ins selbe Horn. »Wir sehen im Moment überhaupt keine Notwendigkeit, diese Vereinigung zu forcieren«, sagte Linde am 19. Juni zur taz.

Beide Seiten hatten gute Argumente auf ihrer Seite. Die Berliner verwiesen auf die soziale, geographische und wirtschaftliche Einheit des Raumes Berlin-Brandenburg. Sie wurden von der Furcht getrieben, Brandenburg baue sich rings um Berlin einen Speckgürtel auf, mit wohlhabenden Betrieben und Bewohnern, die die Einrichtungen der nahen Großstadt zwar nutzen, ihre Steuern aber in Brandenburg zahlen würden. Die Berliner Sozialdemokraten erinnerten in ganz unberlinischer Bescheidenheit daran, daß Berlin bis 1920 vom Regierungspräsidium in Potsdam regiert wurde. Und im Senat bezeichnete man die Landesqualität Berlins als ein abgelebtes Relikt der Teilung und des Kalten Krieges. Berlin sei, hieß es in einem Referentenentwurf von Eberhard Diepgens Senatskanzlei, gerade »kein durch die Jahrhunderte geprägter Stadtstaat« wie die ehemaligen Hansestädte Hamburg und Bremen.

Entwicklungsgefälle City und Umland

Die Brandenburger wollten all das überhaupt nicht abstreiten. »Im Prinzip« sei der gemeinsame Raum »ein Land«, meinte auch Linde. Er verweist aber bis heute auf die gravierenden Unterschiede und das riesige »Entwicklungsgefälle« zwischen der Westberliner City und den dünnbesiedelten, ärmlichen brandenburgischen Randgebieten um Kyritz, in der Uckermark, der Lausitz und der Prignitz. Es sei seine »Hauptsorge«, bekannte Linde, daß diese peripheren Gebiete »zu kurz« kommen könnten.

Ein gemeinsames Land würde sicherlich eher im Berliner als im Brandenburger Interesse liegen, ließen die Potsdamer immer wieder durchblicken. Eine fortdauernde Trennung berge durchaus »die Gefahr, daß das eine Land gegen das andere regiert und Berlin eingeschnürt wird«. Ein fusioniertes Land bedrohe dagegen die brandenburgischen Interessen, so Linde, weil möglicherweise dann »alles aus der Sicht der Zentrale gesehen wird«.

Sollen andere in die Ehe hineinreden?

Um so überraschter waren Berliner und Brandenburger, als sich Ministerpräsident Manfred Stolpe zwei Tage nach dem Pro-Berlin-Votum des Bonner Parlaments mit Äußerungen vorwagte, die von vielen als Votum für einen Zusammenschluß von Berlin und Brandenburg verstanden wurden. Dabei blieb auch Stolpe durchaus wolkig. Er legte sich nicht fest und forderte lediglich, »bis etwa Mitte 1992« zu entscheiden, ob man zusammengehen sollte. Der Vollzug der Fusion dagegen sollte sich nach Stolpes Auffassung »in demselben Zeitrahmen abspielen wie der Umzug der Bundesorgane nach Berlin«. Zu deutsch: Erst zur Jahrtausendwende würden die jetzt 3,2 Millionen Berliner und die 2,7 Millionen Brandenburger in einem gemeinsamen Land leben. Doch schon in diesem Jahr, gleich nach der politischen Sommerpause, wollen die Brandenburger eine Enquetekommission einsetzen, die das Für und Wider einer Zusammenlegung unter die Lupe nehmen soll.

Bis zum 3. Oktober 1992 muß eine Frage auf alle Fälle geklärt werden: Ob Berliner und Brandenburger das im Einigungsvertrag fixierte Angebot annehmen wollen, einen neuen Artikel in das Grundgesetz aufzunehmen, der ihnen das Verfahren der Fusion erleichtern könnte. Sie könnten dann ihre Ehe selbst und ohne Einmischung von außen per einfacher »Vereinbarung« vollziehen.

Ärmliche Ausbeute bisheriger Kooperation

Die Frage des »Ob« bliebe dabei zunächst freilich unberührt. Es sind ausgerechnet Berliner, wie Diepgen, die auf diese Differenzierung Wert legen — als fürchteten sie, daß die Zeit im nächsten Jahr noch nicht reif sein würde. In der Tat können sich die Politiker im Rathaus Schöneberg ihrer eigenen Bevölkerung durchaus nicht sicher sein. Die Westberliner seien jetzt schon entnervt von der Zumutung, mit den armen Brüdern und Schwestern im Ostteil Berlins teilen zu müssen, heißt es. Wie, wenn man nun auch noch an die brandenburgischen Bauern aus Kyritz an der Knatter etwas abgegeben müßte? Eine allzu frühe Fusion schon Mitte der 90er Jahre würde überdies die Berliner und die Brandenburger Behörden auf längere Zeit lahmlegen — und dies mitten in den Vorbereitungen für Olympiade und Regierungsumzug. Manche Berliner Politiker haben inzwischen insgeheim sogar ein Argument der Brandenburger übernommen: Als selbständiger Staat könne Brandenburg seine eigenen Interessen in der Tat besser vertreten, als in einem gemeinsamen Land.

Man sollte lieber »die konkreten Sachprobleme« in Angriff nehmen, als »länger über den möglichen Zeitpunkt der Vereinigung der beiden Länder zu spekulieren«, mahnten die SPD-Fraktionschefs von Brandenburg und Berlin in einer gemeinsamen Erklärung am letzten Freitag. Freilich blamiert sich die große Vereinigungsidee spätestens dann endgültig, wenn man sich die ärmliche Ausbeute der bisherigen Kooperation anschaut. Der Staatsvertrag zwischen beiden Regierungen, der eigentlich bereits im Sommer als Entwurf vorliegen sollte, werde wohl erst im Herbst vorliegen, heißt es mittlerweile. Kanzleichef Linde verweist auf die Vielzahl von Problemen in der Zusammenarbeit, die geklärt werden müßten. Gemeinsame Berlin-Brandenburger Institutionen in der Wirtschaftsförderung kamen bisher nicht zustande. Gleichzeitig beobachten die Berliner mißtrauisch den Einfluß, den die etwa 500 Beamten ausüben, die aus dem brandenburgischen Partnerland Nordrhein- Westfalen nach Potsdam abgeordnet wurden. Dazu zählt nicht nur Kanzleichef Linde, sondern auch die Führungsmannschaft des Wirtschaftsförderungsvereins »Pro Brandenburg« — der überdies von der Düsseldorfer Landesregierung alimentiert wird.

Den Vorwurf, die Aufbauhelfer von Rhein und Ruhr praktizierten Kolonialismus, weist Linde freilich weit von sich. Im Gegenteil: NRW helfe Brandenburg lediglich, »nicht irgendein von Berlin abhängiges Kolonialland« zu werden. Die Furcht, von den »viel welt- und westerfahreneren Westberlinern« dominiert zu werden, steckt den Brandenburgern in der Tat tief in den Knochen. Alle Lösungsvorschläge greifen hier vorerst zu kurz. Der Gedanke des Berliner Wirtschaftssenators Norbert Meisner, in einem gemeinsamen Land beiden Landeshälften gleich viele Parlamentssitze zuzugestehen, sei zwar eine »tolle Idee«, heißt es in der Brandenburger SPD-Fraktion. Doch was würden die Berliner dazu sagen? Hans-Martin Tillack