Ein vergessener Virtuose

■ EinsPlus widmet dem amerikanischen Regisseur Vincente Minelli eine 12teilige Retrospektive

Berühmt wurde der 1908 (oder 1913) in Chicago geborene Schauspielersohn Vincente Minelli durch die Art Filme, bei denen man heutzutage wie von der Tarantel gestochen zum Ausschaltknopf hastet, weil die Darsteller aus unerfindlichen Gründen zu singen anfangen. Mit MGMs The Wizzard of Oz wurde 1939 die zweite Blütezeit des berüchtigten Hollywood-Musicals eingeleitet. Arthur Freed, der für alle MGM-Musicals und damit für Musicals schlechthin verantwortlich zeichnete, suchte musisch versierte Regisseure, die mit formalem Geschick den Operettenfilm der 30er aus der phantasielosen Abfolge der Nummernrevue herauslösten. Minelli hatte sich zu dieser Zeit in Chicago bereits einen Namen als Bühnenarchitekt und Regisseur von Singspielen gemacht, als er auf Freeds Hollywood-Angebot einging und nach einem Crashkurs im Regiehandwerk 1943 mit Cabin in the Sky debutierte. Doch bereits mit Der Tollpatsch und die Schöne (I Dood it, 1943), eine deutsche Erstaufführung, mit der die Reihe heute um 22.15 Uhr startet, signalisierte Minelli, daß er sich keineswegs auf den stupiden Megaschmalz des Singfilms beschränken wollte. Der Tollpatsch... ist eine eigenwillige Mischung aus Slapstick- und Musical- Komödie, in der Hollywoods derzeit berühmteste Steptänzerin Eleonore Powell an der Seite des Komikers Red Skelton agiert. Auch die eher konventionellen Musicals Yolanda und der Dieb mit Fred Astaire (1945, am 23.7.) und Brigadoon mit Gene Kelly (1954, am 13.8.) zeigen Minellis Gespür, Einflüsse aus der modernen Kunst bis hin zum Surrealismus aufzunehmen. Mit Minelli wurde der Bruch vom statischen, im Dekor gefangenen „backstage-musical“ hin zu weiträumigeren, befreienderen Außenaufnahmen vollzogen, bei dem die Tanznummern in die Handlung integriert wurden.

Filmisch interessanter sind heute jedoch Minellis Melodramen, die deswegen nicht so bekannt sind, weil hier die Innovation mit dem Namen Douglas Sirk assoziiert wird. Wie Sirk auch, inszenierte Minelli seine Liebesgeschichten bei weitem nicht nur auf der Schmalzgeigen-Ebene, die er im Gegenteil ironisch subvertierte.

Als zweite deutsche Erstaufführung folgt Urlaub von der Liebe (The Clock, 1945, am 17.7.), eine rührend „kleine“, mit subtilem Wortwitz und Situationskomik gebrochene Geschichte um einen Soldaten, der während seiner zwei Urlaubstage in New York Judy Garland kennenlernt (mit der Minelli im Jahr darauf Liza zeugte).

Die brillant fotografierte, schlüssig und temporeich erzählte Geschichte endet mit der stürmischen Heirat auf den letzten Drücker. Zurück bleibt eine erfüllte Judy Garland, die ihren Mann zum Kriegsschiff bringt und überglücklich hinter der Absperrung wie hinter Gefängnisgittern zurückbleibt. Eine Entdeckung!

Bereits in Der unbekannte Geliebte (Undercurrent, 1946, am 30.7.), mit Katherine Hepburn zwischen Robert Taylor und Robert Mitchum als zwei ungleichen Brüdern, zeigt sich Minellis Geschick für das große, mit mehreren Stars besetzte Melodram. Eine in ihrer Naivität entwaffnende, kleine Chemikertochter glaubt, in einem reichen Chemiefabrikanten ihren ersehnten Traumprinzen gefunden zu haben. Im Zuge des von ihm geschürten Interesses für seinen verhaßten, geheimnisvollen Bruder (Mitchum) stellt er sich jedoch als psychopathischer Verbrecher heraus. In Hitchcock-Manier entlarvt Minelli mit atmosphärisch dichter Inszenierung und pointierten Dialogen zartes Liebesgeflüster als unfreiwillig doppelzüngiges Gesäusel. Unbedingt sehenswert.

Es folgen zwei weitere Filme, die bisher im Fernsehehen nicht gezeigt wurden: Die Verlorenen (The Cobweb, 1955, am 20.8.) und Das Erbe des Blutes (Home from the Hill, 1959, am 17.9). Vater ist nicht verheiratet (The Courtship of Eddie, 1962, am 24.9.) ist ein Beispiel für einen unterschätzten Film.

Anders als die anderen (Tea an Sympathy, 1956, am 27.8.) sowie Warum hab' ich ja gesagt (Designing Woman, 1957, am 3.9.) und Was weiß Mama von der Liebe (The Reluctant Debutant, 1958, am 10.9.) zeigen wiederum einen anderen Minelli, der auch „sophisticated commedies“ und „Problemfilme“ drehte. Manfred Riepe