„Die vielen Augen saugen mich aus“

Boris Becker denkt nach seiner Wimbledon-Niederlage gegen Michael Stich heftig ans Aufhören  ■ Aus Wimbledon Miß Schießl

Unendlich müde und mit schweren Schritten schleppt sich Boris Becker aufs Netz zu. Statt jedoch die Hand auszustrecken zum Glückwunsch steigt er drüber und umarmte Michael Stich, der ihm gerade die größte Wunde seiner Karriere zugefügt hat. In drei Sätzen servierte der Überraschungsfinalist von Wimbledon die Nummer eins der Welt 6:4, 7:6 und 6:4 ab.

„Der Centre Court ist meine sportliche Heimat, mein Zuhause. Und so pflege ich mit Gästen umzugehen“, erklärte Becker seine Geste. Doch wer da Überheblichkeit wittert, liegt falsch. Als sich Stich, den Pokal in den Händen, vom Volk feiern ließ, saß der Hausherr völlig apathisch auf dem Stuhl. Ein rothaariges Häuflein Elend starrte vor sich hin und strich sich unablässig übers Haar. Streicheleinheiten für einen Schwerverletzten. So wich der spontane Jubel der Deutschen schnell einer gewissen Betroffenheit. Sicher, der Sieg von Stich ist eine Sensation und ein Meilenstein in der deutschen Tennisgeschichte. Doch Boris Becker derart leiden zu sehen, das wollte keiner. Das einmalige Ereignis eines rein deutschen Finales blieb unvermutet in der Magengegend stecken.

Daß das Match der Davis-Cup- Kollegen und Trainingspartner delikat werden könnte, war klar. So klar wie der Favorit: Boris Becker. Doch der wußte nicht, wie ihm geschah. Stich holte sich mit glänzenden Returns gleich im ersten Spiel das Break. Und traf fortan einfach alles, während sich Becker erbärmlich rudernd zur Wehr setzte. „Das auf dem Platz, das war nicht ich“, sagte er anschließend.

Tatsächlich spielte sein Double so schlecht wie nie zuvor. Nur in absoluten Notsituationen kämpfte er und wehrte insgesamt 12 von 16 Breakchancen ab. Zu wenig. Selbst als er Ende des zweiten Satzes begann, wild auf seinen Schläger einzureden, zu schreien und zu hadern, wirkte sich das Adrinalin nicht wie sonst positiv auf seinen Schlagarm aus. Immer noch ging zu viel ins Aus, ins Netz, daneben. Er gab den zweiten Satz ab, und fügte sich im dritten dem Unabwendbaren. „Meine Beine waren zu müde, hatten keine Explosivität mehr. Dieses Match war eins zuviel.“ Schuld daran sei der zu enge Spielplan, der ihn besonders benachteiligte.

Doch körperlich, so meinte er kurz darauf, hätte er durchgehalten. Nur der Kopf streikte. „Auf Rasen gewinnt der mit der stärkeren Psyche. Ich hatte zuviel Erfolgsdruck. Michael Stich hingegen frohlockte: „Jetzt kenne ich das magic feeling auf dem Centre Court. Es ist wirklich einmalig. Ich habe mich so wohl gefühlt da draußen.“ Je aufgeregter Boris wurde, desto selbstsicherer wurde Stich. Ihm gelangen die abenteuerlichsten Schläge, er sah jede Lücke. Zudem bremste ihn keine Barriere vor Boris dem Halbgott: „Er war nie mein Idol. Ich versuchte niemals, ihn zu kopieren.“ Stich ist cool, und, weil sehr schlau, nicht leicht zu beeindrucken. Doch er ist nicht brutal. „Für mich ist Boris unerreicht, und ich glaube nicht, jemals das zu schaffen, was er geschafft hat. Heute hat er sich kleiner gemacht, als er ist.“ Zwei Stunden später lud Stich zum Pressegespräch. Mit von der Partie: Boris Becker. Still und nachdenklich lehnte er im Sofa. Als Stich kam, zog er sich zurück: „Micha, das ist deine Pressekonferenz.“ Und als der strahlende Kumpel von seinem Glück erzählte, bediente Boris die Gäste mit Kuchen und Schnitten. „Ich weiß, wie er sich jetzt fühlt. Er fliegt. Und er hat es verdient.“ Was er ihm raten würde, als Freund? „Wenn er in ein paar Wochen wieder landet, sollte er nicht vergessen, daß es alles in allem doch nur ein Tennis- Match war.“

Viel später, als Stich längst zum wohlverdienten Championsdiner gegangen war, saß Boris Becker immer noch auf seiner Bank im Garten und sprach mit Journalisten. „Warum freut ihr euch nicht mehr? Warum seid ihr so leise?“ fragte er. Doch am Boden zerstört wie er war, wollte keiner so recht feiern. „Ich fühle mich unheimlich alt“, sagte er. „Lieber wäre ich die Nummer zwei und Wimbledon-Sieger.“

Und dann legte er mit leiser Stimme seine Seele auf den Tisch: „Ich stelle alles in Frage. Ich weiß nicht, wie es weitergeht. Irgendwie wiegt die Freude am Tennis den Kraftaufwand nicht mehr auf.“ Worte, die nach Abschied klingen. Und plötzlich versteht man, was an einen Menschen wie Becker, der ewig auf der Jagd ist nach sich selbst, nagt und zehrt: „Die vielen Augen, die mich immer anschauen, die ermüden mich total, die saugen mich aus.“ Boris Becker ist 23 wie Stich — und denkt ans Aufhören. „Ich habe alles gewonnen, jetzt gibt es nur noch Wiederholungen. Und die mag ich nicht.“ Becker sucht neue Herausforderungen, denkt über einen neuen Job nach. „Einen, der nichts mit Tennis zu tun hat, wo ich bei Null anfangen und mit vollem Herzen dabei sein kann.“ So wie einst beim Tennis. Boris Beckers Offenbarung ist nicht die weinerliche Vorstellung eines Verlierers. „Es ist nicht das verlorene Match. Was mich schockt, ist, daß das Turnier keinen Spaß mehr gemacht hat. Es war nur noch Arbeit.“

In immer kürzeren Abständen überfällt ihn die Sehnsucht nach Leben. „Ich kann noch nichts außer Tennisspielen.“ Ob er an Familie denke, an Fernseher und Bier? „TV und Bier? Das habe ich doch jetzt!“ Bekenntnisse einer Tennisexistenz. „Ich weiß nicht, wann ich aufhöre, ob ich aufhöre. Ich weiß gar nichts. Nur, daß es sich von einem Tag auf den anderen entscheiden kann. Ganz alleine, so wie ich entscheide, welchen Aufschlag ich spiele.“ Und bedeutungsschwanger setzt er hinzu: „Der Sieg und die Nummer eins, das wäre ein perfekter Schluß gewesen.“ Doch trotz alledem gönnt der waidwunde Champ Kollegen Stich das Erlebnis: „Das wird sein Leben verändern. So wie meins.“ Boris Becker, Sieger im Verlieren.