KOMMENTAR
: Keine Wende Nummer zwei

■ Nur noch eine Atempause für den FDP-Vorsitzenden Lambsdorff

Die schonungslose Bilanzierung einer aus den Fugen geratenen Finanzpolitik, die Graf Lambsdorff gestern vor der Presse vortrug, kommt einer Generalabrechnung mit der Bundesregierung gleich. Die dringend notwendige Umkehr in der Fiskalpolitik und die Reduzierung der Staatsausgaben, die er anmahnt, belegt er mit alarmierenden Zahlen.

Nie war das Defizit des Staates so hoch wie derzeit, nie der Anteil der Staatsausgaben am Bruttosozialprodukt so groß wie jetzt mit 52 Prozent, wetterte der FDP-Vorsitzende. Hinzu kämen haushaltspolitische Risiken, die sich aus der deutschen Einheit, der Treuhand-Problematik und den Schulden der ehemaligen DDR, den Umzugskosten nach Berlin, den riesigen Defiziten von Bundesbahn und Reichsbahn sowie Bürgschaftsverpflichtungen des Bundes addieren. Lambsdorff sieht erhebliche Gefahren für eine stabilitätsorientierte Geldpolitik und Rückwirkungen der ausgeweiteten Staatsdefizite auf das internationale Gewicht der D-Mark. Eine drastische Ausweitung der Staatsquote sei nicht hinnehmbar; den Defiziten mit immer höheren Steuern zu begegnen nur „Notlösung und Ausdruck politischer Schwäche“ der Bundesregierung.

Das Szenario einer offensichtlich an ihren oft genug formulierten Zielen gescheiterten Bundesregierung hätte jedem Oppositionspolitiker gut angestanden. Aber Graf Lambsdorff ist keiner, sondern immerhin einer der Architekten der zehnjährigen Koalition mit der Union. Was er zwei Tage vor den Haushaltsverhandlungen 1992, dem „wichtigsten Datum der Legislaturperiode“ (Genscher) auflistet, muß deshalb die Erinnerung wecken an jenen Brandbrief, mit dem derselbe Lambsdorff vor nahezu zwölf Jahren den Ausstieg aus der sozialliberalen Koalition einleitete. Aber ein Wendepapier Nummer zwei ist das nicht, mag Lambsdorff auch mehrfach auf die damalige wirtschafts- und finanzpolitische Situation anspielen, als er den Sozialdemokraten unter Kanzler Schmidt finanzpolitisch unverantwortliches Handeln vorwarf. Heute ist für den Graf alles anders.

Mit seiner Positionsbestimmung, die die Unterstützung des gesamten FDP-Präsidiums hat, setzt er die Meßlatte, an der sich die Union bei den Haushaltsverhandlungen am kommenden Mittwoch messen lassen muß. Im Mittelpunkt steht dabei die von Wirtschaftsminister Möllemann vorgetragene Forderung nach einer haushaltswirksamen Reduzierung der Subventionen um zehn Milliarden Mark; in der Diktion des Vorsitzenden das „wichtige erste Zeichen, daß der Ernst der Lage erkannt worden ist“. Dennoch ist der FDP-Vorsitzende, der sich im November erneut zur Wiederwahl stellen will, in einer paradoxen Situation. Graf Lambsdorff treibt eine Auseinandersetzung voran, die er aus ordnungspolitischen Überzeugungen heraus führt — und die ihn doch in jedem Fall zum innerparteilischen Verlierer machen wird. Wirtschaftsminister Möllemann hat mit seiner Drohung, er werde zurücktreten, wenn die Subventionsstreichungen nicht zustandekommen, das Schicksal der Partei mit seinem eigenen verknüpft und eine Dynamik der innerparteilichen Veränderung in Gang gesetzt.

Graf Lambsdorff ist zu einem Getriebenen gemacht worden, denn längst geht es auch um den künftigen Kurs der Partei. Möllemann dagegen kann bei diesem Spiel nur gewinnen. Setzt er sich bei den Haushaltsverhandlungen durch, dann hat er erreicht, was Lambsdorff in seinen Zeiten als Wirtschaftsminister zwar ebenfalls oft forderte, aber nie erreichte. Scheitert Möllemann und tritt zurück, dann verhilft er der Umfallerpartei FDP zu einem überzeugenden Glaubwürdigkeitsprofil, für das bisher nur Genscher steht. In beiden Fällen hat sich Möllemann alle Wege eröffnet, um bereits im November auf dem Parteitag im thüringischen Suhl gegen Lambsdorff für den Parteivorsitz zu kandidieren. Der Münsteraner Ex-Lehrer kann bei seinem Balanceakt vor allem auf jene stärker werdenden Kräfte in der Partei rechnen, die eine sozialliberale Neu-Orientierung der Liberalen für dringend geboten halten. Diese argumentieren mit den Wirtschaftsproblemen in Ostdeutschland, denen mit dem marktwirtschaftlichen Konzepten der derzeitigen Führung nicht beizukommen sei. Wo die Wirtschaft zusammengebrochen ist, könnten auch die Marktmechanismen nicht mehr greifen. Der soziale Frieden sei als Wirtschaftsfaktor zu bewerten, auch wenn er in keiner Bilanz auftauche, argumentieren jene Vertreter, die stärkere staatliche Eingriffe in das Wirtschaftsleben befürworten. Sie haben auch Ostdeutschland im Blick, wo die FDP nach den Erfolgen der letzten Wahlen erstmalig die Chance winkt, über eine Partei der Wirtschaftsklientel hinauszuwachsen.

Die Lambsdorffschen Drohgebärden sind deshalb unglaubwürdig. Er sieht keine Alternative zu einer Koalition mit der Union, und er weiß zudem, daß er als Verkörperung der sozialen Kälte keine Chance hat, eine sozialliberale Neuorientierung der Partei zu repräsentieren. Zum Wink mit der Wende ist der FDP-Chef deshalb nur getrieben worden. Für das politische Sommertheater, das der Graf gern hätte, ist es viel zu spät. So gesehen ist Lambsdorffs dramatischer Aufruf zur finanzpolitischen Umkehr nur ein Hilferuf an die Union in eigener Sache. Für den Grafen, dessen Zeit abläuft, aber wäre auch dies nur eine Atempause. Gerd Nowakowski