Die gescheiterte deutsche Revolution

Das Kommuniqué des Politbüros der SED vom 9. Juni 1953 war das erste und einzige öffentliche Eingeständnis der politischen Führung der DDR bis zu ihrem Untergang im Herbst 1989, mit ihrer Politik das Land in eine tiefe ökonomische und politische Krise geführt zu haben. Der auf der 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 beschlossene Aufbau der Grundlagen des Sozialismus war gescheitert. Ein Beitrag zur Aufarbeitung und Analyse der Ereignisse vom Juni und Juli 1953 in drei Teilen/ Teil1  ■ VON ARMIN MTTER

BERLIN

Am 11. Juni 53 erschien der Instrukteur für das Wischegebiet, Genosse Albrecht Lampe, in der Wohnung des Genossen Stade in Wendemark und erklärte: ,Was können wir tun in Wendemark? Da ist ein unhaltbarer Zustand. Das gesamte Dorf ist in der Gastwirtschaft betrunken und trinkt auf das Wohl von Adenauer.‘“

Mit dieser alarmierenden Mitteilung begann ein Bericht der SED- Kreisleitung Seehausen. Verstört und hilflos konstatierten die Genossen außerdem, daß in mehreren Orten des Kreises die Mitglieder der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPGs) ebenfalls die Arbeit niedergelegt hätten und in den Dorfschenken feierten. Der Anlaß für die Ausbrüche ländlicher Fröhlichkeit, nicht nur in der Altmark, war ein Kommuniqué des Politbüros der SED vom 9. Juni 1953, das zwei Tage später auf der ersten Seite des Zentralorgans der unumschränkt herrschenden Partei veröffentlicht worden war.

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Wohl selten in der Geschichte der DDR fand das 'Neue Deutschland‘ so reißenden Absatz wie am Morgen des 11. Juni 1953. Bereits nach wenigen Stunden war die gesamte Ausgabe ausverkauft. Das erste und bis zu ihrem Untergang im Herbst 1989 wohl auch einzige Mal erklärte die Parteiführung öffentlich — freilich nur für einen geschulten DDR-Bürger klar verständlich —, mit ihrer völlig verfehlten Politik das Land in eine tiefe ökonomische und politische Krise geführt zu haben. Aus dem Kommuniqué ging hervor, daß der auf der 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 beschlossene Aufbau der Grundlagen des Sozialismus gescheitert war. Für die Arbeiter hatte er eine drastische Verschlechterung der Lebensbedingungen zur Folge gehabt. Die Bauern waren mehr oder weniger direkt gezwungen worden, den LPGs beizutreten. So drohte Einzelbauern bei Nichterfüllung des bewußt extrem hohen Ablieferungsaufkommens gerichtliche Verfolgung. Anfang Juni 1953 saßen mehrere tausend in den Gefängnissen, und viele hatten sich einer Verurteilung nur durch Flucht in die Westzonen entziehen können. Ähnlich erging es Handel- und Gewerbetreibenden sowie privaten Unternehmern, denen ebenfalls unerfüllbare Auflagen gemacht wurden, mit dem Ziel, sie zu zwingen, ihre Geschäfte und Betriebe in Volkseigentum zu überführen. Die Intelligenz litt vor allem darunter, daß immer stärker ideologische Maximen die fachliche Arbeit bestimmten. Im Frühjahr 1953 hatte die SED zudem eine breite Kampagne zur Zurückdrängung des Einflusses der evangelischen Kirche begonnen. Dieser Kirchenkampf äußerte sich darin, daß eine große Anzahl von Oberschülern und Studenten relegiert wurde, weil sie der Jungen Gemeinde angehörten. Das Vorgehen der SED machte auch deutlich, welchen geringen Stellenwert Rechtsstaatlichkeit in der DDR hatte.

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Doch nun, so versprach die Parteiführung, sollte alles anders werden. Der „Neue Kurs“, hieß es im Kommuniqué vom 9. Juni, bezwecke, die „Lebenshaltung der Arbeiter, Bauern, der Intelligenz, der Handwerker und der übrigen Schichten des Mittelstandes zu verbessern.“ Vom Aufbau des Sozialismus war nicht mehr die Rede, sondern das „Politbüro hat bei seinen Beschlüssen das große Ziel der Einheit Deutschlands im Auge...“

Bereits die ersten Reaktionen offenbarten, daß die breite Bevölkerung die denkbar schlechtesten Erfahrungen mit dem SED-Regime gemacht hatte und keineswegs gewillt war, der Partei auf dem „Neuen Kurs“ zu folgen. Vielmehr verbreiteten sich nach der Veröffentlichung des Kommuniqués und weiterer Beschlüsse des Ministerrates wenige Tage später, die den gleichen Tenor hatten, die Überzeugung, daß die Regierung und damit auch die herrschende Partei am Ende war. Die im ganzen Land kursierenden Gerüchte belegen dies nachdrücklich. So berichtet die SED-Bezirksleitung Erfurt am 12. Juni nach Berlin, in fast allen Kreisen des Bezirks erzähle man sich, die „Regierung der DDR besteht seit 25 Stunden nicht mehr. Otto Grotewohl hat sich vergiftet. Walter Ulbricht hat Selbstmord begangen... Genosse Wilhelm Pieck sei tot, in der Schweiz bei der Republikflucht erschossen.“ Nahezu aus allen Bezirken erhielt das Zentralkomitee der SED ähnliche Mitteilungen. Darin wurde auch darauf hingewiesen, daß man in einer Reihe von Schulen damit begonnen habe, die Bilder von Grotewohl, Pieck und Ulbricht zu entfernen, teilweise sogar auf Beschluß der Schulleitungen.

Die vom Politbüro und dem Ministerrat beschlossenen Maßnahmen fanden keineswegs den erhofften Widerhall in der Bevölkerung, wie auch die eingangs geschilderten Ereignisse im altmärkischen Wendemark zeigten. Immerhin hatte die Parteiführung versprochen, nicht nur die Zwangskollektivierung zu stoppen, sondern den Bauern zu gestatten, aus den LPGs auszutreten und ihre Höfe wieder selbst zu bewirtschaften. Zudem erhielten Rückkehrer aus den Westzonen ihr Eigentum zurück. Auch mit der Entlassung inhaftierter Bauern wurde begonnen, um die Wiederherstellung „rechtsstaatlicher Grundsätze“ zu demonstrieren. Und trotzdem feierten die Bauern in Wendemark nicht den „Neuen Kurs“, sondern tranken auf das Wohl von Konrad Adenauer. Freilich mußten sie schon bald erkennen, daß Adenauer alles andere im Sinn hatte, als der erste gesamtdeutsche Kanzler zu werden. Er forcierte in dieser Zeit die Westintegration der Bundesrepublik und empfand die Geschehnisse im Osten Deutschlands dabei eher als störend. Das hinderte ihn allerdings nicht daran, die Unterdrückung der „Brüder und Schwestern in der Ostzone“ durch das SED-Regime nach der Niederschlagung des Widerstandes im Juni/Juli gehörig anzuprangern.

In einigen Dörfern ließen es die Bauern nicht dabei bewenden, den Bankrott der SED-Politik zu feiern, sondern nutzten die deutlich spürbare Erschütterung des kommunistischen Herrschaftssystems, um politische Veränderungen zu verlangen. So wurde auf einer Bauernversammlung in Eckolstedt im Kreis Apolda am 13. Juni eine Entschließung verlesen, in der die Anwesenden verlangten: „Den Gemeinderat neu wählen und die drei Vertreter der SED herausschmeißen. Sofortige Ablösung des Bürgermeisters. Abtreten der Regierung. Forderung nach Wahlen, zu denen alle Parteien zugelassen werden.“ Eckolstedt war durchaus kein Einzelfall. Bereits im Gesamtbericht der zuständigen ZK- Abteilung vom 12. Juni, in den eine wahre Flut von Informationen aus den Bezirken einfloß, hieß es: „Die Diskussionen unter der Bevölkerung sind kritischer geworden, teilweise haben sie einen heftigen Charakter gegen unsere Partei und Regierung angenommen und treten besonders umfangreich und feindlich auf dem Lande auf.“

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Zu diesem Zeitpunkt hatten bereits Demonstrationen vor allem vor den Gefängnissen stattgefunden, bei denen die Freilassung von Inhaftierten gefordert wurde, die im Zusammenhang mit der vorangetriebenen Verstaatlichung privater Unternehmen in die Mühlen der „sozialistischen Rechtspflege“ geraten waren. So erschienen am Nachmittag des 12. Juni beim Kreisstaatsanwalt in Brandenburg sechs Arbeiter des Fuhrunternehmers Taege und forderten unter Berufung auf die Beschlüsse des Politbüros die Freilassung ihres Chefs, der wegen angeblicher Steuerhinterziehung im Gefängnis saß. Mit der abschlägigen Antwort gaben sich die Arbeiter nicht zufrieden, sondern protestierten lautstark vor der im Zentrum der Stadt gelegenen Haftanstalt. Innerhalb einer Stunde entwickelte sich daraus eine Ansammlung von 5.000 Personen. Die SED- Kreisleitung setzte erfolglos 100 Agitatoren ein, die die Menge beruhigen sollten. Erst am späten Abend gingen die Demonstranten auseinander. In einem Bericht hieß es, daß „die übergroße Mehrzahl der Bevölkerung gar nicht unterrichtet war, um was es sich handelte“. In den Diskussionen vor der Haftanstalt Brandenburg spiegelte sich die im ZK-Bericht vom 12. Juni beschriebene Stimmung deutlich wider. Es bedurfte nur eines Anlasses, damit die aufgestaute Unzufriedenheit breiter Teile der Bevölkerung zum Ausbruch kam.

Wie angespannt die Lage war, bekamen die Agitatoren und Instrukteure zu spüren, die die Parteiführung beauftragte, den „breiten Massen“ den „Neuen Kurs“ zu erläutern. Die dazu vorgegebenen „Argumentationshilfen“ bestätigten den Eindruck, daß durch solche Einsätze oft eher noch Öl ins Feuer gegossen wurde. So mußten sich die „breiten Massen“ lange Ausführungen über den Anfang Juni abgeschlossenen Friedensvertrag in Korea, über den Wahlsieg der „demokratischen Kräfte“ in Italien und nicht zuletzt über die erfolgreichen Bemühungen der Sowjetführung, eine Viermächtekonferenz einzuberufen, anhören. All diese Erfolge der „Friedenskräfte in der Welt“, so argumentierten die SED-Funktionäre, hätten es der Partei- und Staatsführung gestattet, den „Neuen Kurs“ einzuleiten. Über die eigentlichen Gründe der ökonomischen und politischen Krise in der DDR sollte nur am Rande diskutiert werden. Auch die Blockparteien und Massenorganisationen instruierten ihre Funktionäre, den „Neuen Kurs“ „offensiv“ unter den Mitgliedern zu propagieren. Entsprechende Reaktionen konnten nicht ausbleiben. Als beispielsweise auf einer Versammlung des Demokratischen Frauenbundes Deutschlands (DFD) in Haldensleben am 11.Juni die Mitarbeiterinnen des zuständigen Kreissekretariats den „Neuen Kurs“ erläutert hatten und die Anwesenden zur Diskussion aufforderten, trat „eisiges Schweigen“ ein. Doch dabei beließen es die Haldenslebener Frauen nicht. Als sich die Vertreterinnen des Kreissekretariats unverrichteter Dinge auf den Heimweg begaben, „wurde der Wagen unserer Freundinnen mit Steinen beworfen“, meldete das Bundessekretariat des DFD der Partei.

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Über die sich von Tag zu Tag zuspitzende Situation war die Partei- und Staatsführung bestens informiert, ohne darauf jedoch zu reagieren. Offenbar war der engere Führungszirkel in dieser Zeit vor allem mit sich selbst beschäftigt. Das hing damit zusammen, daß erst die sowjetischen Genossen Anfang Juni die SED-Führung auf den Ernst der Lage hingewiesen und energisch gefordert hatten, den „Neuen Kurs“ einzuleiten. Daraufhin waren Machtkämpfe im Politbüro ausgebrochen. Auf der einen Seite stand Walter Ulbricht, der mehr oder weniger offen für die verfehlte Politik seit der 2. Parteikonferenz verantwortlich gemacht wurde. Sein schärfster Rivale war Rudolf Herrnstadt, der Chefredakteur des 'Neuen Deutschland‘. Der Kampf um die Macht trübte den führenden Genossen den Blick dafür, was sich im Land nach der Verkündung des Kommuniqués vom 9. Juni zusammenbraute. Die täglich eingehenden Berichte ließen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig.

Auch die wachsenden Proteste gegen die im Mai beschlossenen 10 Prozent Normerhöhung, die nicht zurückgenommen worden war, ignorierte die Partei- und Staatsführung. Bereits am 12. Juni konstatierte die für die eingehenden Berichte zuständige ZK-Abteilung: „Die Versuche feindlicher Kräfte, den Widerstand gegen die Normerhöhung (10%) zu propagieren, hat zugenommen.“ Es wäre aber verfehlt, daraus zu schließen, daß sich im Fall der Rücknahme des Beschlusses vom Mai die Lage wesentlich entspannt hätte. Denn die Forderungen auch der Arbeiter gingen bereits zu diesem Zeitpunkt weiter: „Wir wollen keine Lohnkürzung, wir wollen Butter statt Kanonen, weg mit der SED-Regierung, die Ausbeuter der Arbeiterklasse 'Freiheit‘!“, stand am 13. Juni im VEB Optima Erfurt am schwarzen Brett.

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Die in den frühen Morgenstunden des 17. Juni im ZK auf der Grundlage der Berichte vom Vortag erstellte Situationsanalyse zeigte, daß die Zeit des mehr oder weniger passiven Widerstandes zu Ende war und offene Auseinandersetzungen im ganzen Land bevorstanden, in denen es um die Beseitigung oder Behauptung der SED-Herrschaft gehen mußte: „Es gab gestern eine nicht geringe Anzahl von Streiks, Streikandrohungen in den Betrieben fast aller Bezirke... Neben der weiteren Verbreitung der schon gemeldeten Gerüchte geht der Gegner in wachsendem Maße zu Drohungen, Provokationen und tätlichen Angriffen über. Sein Hauptziel besteht offensichtlich darin, anknüpfend an die Unzufriedenheit in einer Reihe von Betrieben durch provokatorische Losungen eine Spaltung zwischen Partei und Regierung und den werktätigen Massen herbeizuführen und die Losung des Sturzes der Regierung und die unmittelbare Durchführung von Neuwahlen in die Massen zu tragen.“

Die Aktionen der Berliner Bauarbeiter waren das Signal, auf das große Teile der Bevölkerung aller sozialer Schichten im ganzen Land gewartet hatten. Am 15. Juni verabschiedete die Belegschaft am Bau Krankenhaus Friedrichshain eine Resolution, in der Ministerpräsident Otto Grotewohl ultimativ aufgefordert wurde, bis zum nächsten Tag für die Rücknahme der 10 Prozent Normerhöhung zu sorgen, ansonsten drohten die Bauarbeiter mit Streik. Aus den Berichten des MfS über den stürmischen Verlauf der Versammlung geht hervor, daß wohl in erster Linie die Mitglieder der Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) für die deutlich gemäßigtere Form des Schreibens an Grotewohl sorgten. Letztlich habe der BGL-Vorsitzende Max Fettling verhindert, so die MfS- Berichte, daß radikalere Forderungen einflossen. Mit seiner Unterschrift unterstrich Fettling den gewerkschaftlichen Charakter des Schreibens, das er auch mit dem BGL-Stempel versah. Die ökonomischen Forderungen, die am 16. und 17. Juni vielerorts in den Belegschaftsversammlungen verabschiedet wurden, spiegeln nur zum Teil die tatsächliche Stimmung in den Betrieben wider. Zweifellos waren es Gewerkschaftsfunktionäre, die verhinderten, daß politische Forderungen beschlossen wurden. Das hinderte jedoch die Staatssicherheit nicht daran, gerade ihnen die Hauptschuld für den Beginn der Unruhen zuzuschieben. „Es wurde durch Vernehmungen festgestellt, daß die Mitglieder der Gewerkschaftsleitung in den Betrieben zum größten Teil die Organisatoren waren oder mitmachten“, hieß es in einem ersten zusammenfassenden MfS-Bericht vom 19.Juni. Max Fettling wurde dann auch mit fünf Jahren Zuchthaus bestraft.

Doch am 15. Juni glaubten die Mitarbeiter im Büro des Ministerpräsidenten wohl gerade deshalb, nicht unverzüglich auf das Ultimatum der Bauarbeiter am Krankenhaus Friedrichshain reagieren zu müssen, weil das Schreiben der BGL-Vorsitzende unterzeichnet hatte. Noch einen Tag später riet der persönliche Sekretär dem Ministerpräsidenten, nicht dazu Stellung zu nehmen. Zunächst „muß der dafür zuständige Magistrat [von Berlin, A.M.] die Sachlage klären.“ Es handele sich wohl um eine „größere Aktion“, und deshalb werde die Bezirksleitung der SED tagen. Grotewohl sollte erst dann entscheiden. Die Geruhsamkeit war jedoch bald vorbei, nicht nur im Büro des Ministerpräsidenten.