Knapp über der Kavaliersgrenze

■ Urteil im Hanauer Atommüllschieber-Prozeß hinterläßt einen schalen Nachgeschmack

Knapp über der Kavaliersgrenze Urteil im Hanauer Atommüllschieber-Prozeß hinterläßt einen schalen Nachgeschmack

Die Haftstrafe gegen den früheren Transnuklear-Boß Peter Vygen setzt den vorläufigen Schlußpunkt unter eine grandios gescheiterte Rechercheübung: Die Hintergründe der routinemäßigen Atommüllschiebereien durch halb Europa liegen heute noch genauso im halbdunkeln wie in jenem Winter 1988, als Umweltminister von Bonn bis Wiesbaden vollmundig die „rückhaltlose Aufklärung“ versprachen. Daran hat auch die jahrelange Fleißarbeit dreier parlamentarischer Untersuchungsausschüsse in Wiesbaden, Bonn und Straßburg nur wenig geändert. Dem Hanauer Landgericht ist das am allerwenigsten anzulasten. Dennoch bleibt angesichts des Urteils ein ausgesprochen schaler Nachgeschmack.

Nur der kleinere Teil der insgesamt über 20 verschobenen Millionen war überhaupt Gegenstand des Verfahrens. Abgeurteilt wurde nicht etwa der verantwortungslose Umgang mit der strahlenden Fracht, die „Aus den Augen, aus dem Sinn“-Mentalität der bundesdeutschen Atomherren. Abgeurteilt wurden, gemessen am Ausmaß des Skandals, nur „peanuts“. Da ging es um Betrug am Fiskus, um Veruntreuung, um Unterschlagung. In dankenswerter Klarheit hat der Vorsitzende Richter seinen Frust darüber noch einmal vorgetragen. Seine schlichte Erkenntnis: Wer Atommüll verschiebt, falsch klassifiziert, in undurchschaubare Kanäle speist und seine Kenntnis über all dies auch dann noch verheimlicht, wenn die Angelegenheit auffliegt, ist und bleibt ein ehrenwerter Mann. Was er tut, ist in diesem Land nicht strafbar.

Verdruß bereitet das gestrige Urteil auch noch aus einem anderen Grund. Es bestätigt sich auf geradezu klassische Weise der Spruch von den Großen und den Kleinen, die man laufen läßt beziehungsweise hängt. Wer vor Ort mit schwarzen Kassen und Tarnfirmen hantiert (wie Vygens vor zwei Wochen verurteilte Untergebenen), muß länger hinter Gitter als er, der sie zu diesem „ungewöhnlichen Akquisitionsaufwand“ angehalten hat. Und die mutmaßlichen Auftraggeber aus den Mutterfirmen Nukem, RWE und Degussa bleiben gänzlich unbehelligt. Bisher jedenfalls.

Die Atomzunft, die sich nach schockähnlichen Symptomen seinerzeit rasch berappelte und den Atomskandal flugs in einen „Medienskandal“ umzubiegen suchte, kann jubilieren. Die Hanauer Richtersprüche sprechen für sich, wird es heißen. Der kapitale Vorwurf, Bombenstoff ins Ausland verschoben zu haben, spielte in den nun abgeschlossenen Verfahren keine Rolle. Er konnte nie bewiesen werden. Die Urteile liegen knapp über der Kavaliersgrenze. Bleibt die Frage: Warum legten, als der Skandal aufflog, gleich zwei Verdächtige aus den Reihen der Atomgemeinde Hand an sich, wenn doch alles halb so schlimm war? Gerd Rosenkranz