Leerstellenmisere statt Lehrstellenmisere

Trotz „Ausbildungsoffensiven“ finden Zehntausende keine Lehrstelle/ Tausende Lehrstellen bleiben in Ostdeutschland unbesetzt/ Alle wollen Kaufmann und reich werden, arbeiten dagegen ist „out“  ■ Von Steve Körner

Halle. Etwa 60.000 bis 100.000 junge Leute werden in diesem Jahr in Ostdeutschland keine Lehrstelle finden. Zwar versprechen seit einem Jahr Politiker von Kohl bis Ortleb beharrlich, für jeden Schulabgänger in den neuen Ländern stehe im September ein Ausbildungsplatz zur Verfügung. Von der Realität aber sind solche Beteuerungen auch ein Jahr nachdem der Kanzler selbst in Halle eine seiner „Ausbildungsoffensiven“ ausrief, meilenweit entfernt.

Dabei fehlte es nicht an Mühe. In Halle-Osendorf — gleich neben Genschers Geburtshaus — entstand auf dem Gelände einer ehemaligen Bau- Betriebsberufsschule mit Millionenunterstützung des Bundes ein Berufsbildungszentrum der Industrie- und Handelskammer, das vor allem Nachwuchsarbeit für den erst im Entstehen befindlichen Mittelstand leisten soll. Selbständige Handwerker ebenso wie große Unternehmen sollen motiviert werden, alle Ausbildungsplätze zu erhalten und neue zu schaffen: Jeder Ausbildungsplatz in Ostdeutschland wird im kommenden Jahr von Bund und Land mit 3.000 bzw. 5.000 D-Mark gesponsert. Die Landräte von 18 Landkreisen im Süden Sachsen-Anhalts gründeten vor einem knappen Jahr den „Ausbildungsring Halle-Dessau“, dessen „Ausbildungsoffensive“ nach Aussage des IHK-Geschäftsführers Heimann 2.000 zusätzliche betriebliche Ausbildungsplätze bringen soll. 455 zusätzliche Plätze in 153 neuen Ausbildungsbetrieben stehen bisher zu Buche, mehr als 1.800 konnten nach Aussagen Heimanns gesichert werden.

Nach Ansicht von Experten der zuständigen Arbeitsämter in Halle und Merseburg fehlen Ausbildungskapazitäten in „großem Umfang“. Zahlen zu nennen, scheut man sich, da bis zu Beginn des Ausbildungsjahres „ja noch Zeit“ sei.

Im Arbeitsamtsbezirk Merseburg haben nichtsdestotrotz augenblicklich noch 197 Mädchen und 156 Jungen von insgesamt 1.150 in Frage kommenden keine Lehrstelle in Aussicht. Und das, obwohl im selben Arbeitsamtsbezirk derzeit noch rund 300 Lehrstellen vor allem in der Industrie unbesetzt sind.

In Buna und Leuna. (Doch wer hat da schonm Lust drauf.) In den beiden großen Chemiebetrieben, die in den vergangenen Monaten riesige Anstrengungen unternommen hatten, um den Abbau von Lehrstellen an ihren beiden großen Betriebsberufsschulen in halbwegs erträglichen Grenzen zu halten, sind zwei Monate vor Ausbildungsbeginn über als 50 Stellen unbesetzt. Und das, obwohl beide Unternehmen, an deren Berufsschulen vor der Wende jeweils weit über 1.000 Schulabgänger einen Beruf erlernten, aus finanziellen Gründen etwa drei Viertel der früher vorhandenen Ausbildungsplätze streichen mußten. Nur mit Hilfe von Bundeszuschüssen und finanziellen Hilfen aus altbundesdeutschen Chemieunternehmen konnte die Berufsausbildung in den beiden angeschlagenen Chemieriesen überhaupt weitergeführt werden.

Doch der Lohn der Mühe läßt auf sich warten. Berufe wie Chemikant oder Chemielaborant, wie sie von Leuna und Buna vorzugshalber angeboten werden, sind bei der mitteldeutschen Jugend nicht besonders gefragt. Heutzutage lernt man lieber Kaufmann, versucht, in eine Banklehre zu kommen und macht auf Beamter. Handwerk und ein „anständiger“ Beruf, das alles mag zwar irgendwann mal wieder goldenen Boden haben — aber im Moment ist Arbeit einfach nicht in. „Schon gar nicht Arbeit in einem Betrieb, der mir heute nur eines sicher sagen kann: Daß er mich nach der Lehre nicht übernimmt“, meint Rüdiger Hoffmann, einer von denen, die bisher noch keine Lehrstelle kriegen konnten.

Thomas Bänsch, vom Arbeitsamt in Vechta als Berater nach Merseburg delegierter Berufsberater, hat ähnliche Erfahrungen: „Die Jugendlichen, die sich vielleicht doch für einen Beruf in der Chemie entschieden hätten, schrecken letztendlich davor zurück, weil sie nicht glauben, in den heutigen Chemieunternehmen eine Perspektive finden zu können.“ Das Mißtrauen gegen die „Stinkbuden“ ist groß, ebenso die Angst, der potentielle Lehrherr könne mitten in der Ausbildung gezwungen werden, das Handtuch zu werfen.

Ehe sie ein solches unkalkulierbares Risiko eingehen, ziehen es immer mehr junge Leute vor, ihre Lehre gleich in den alten Ländern zu machen. So wird aus der Lehrstellenmisere in Ostdeutschland wenigstens teilweise eine Leerstellenmisere. Deren Effekte sind nicht weniger bedrohlich: Schon klagen Chemieunternehmen genauso wie mittelständische Ofenbauer oder kleine Handwerksmeister über den für die kommenden Jahre absehbaren Mangel an versierten Facharbeitern.