Der erste Präsident in 1000 Jahren

Bei viel Glanz und Gloria leistete Boris Jelzin in Anwesenheit Gorbatschows seinen Präsidenteneid  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Zu einer dezent folkloristischen Superschau geriet gestern der Festakt im großen Kongreßsaal des Kreml, wo Boris Jelzin zu Beginn der neuen Sitzungsperiode des russischen Volksdeputiertenkongresses seinen Präsidenteneid leistete. Vor dem sonst rotbeflaggten Gebäude eiferte allein eine blau-weiße russische Fahne mit dem strahlenden Himmel um die Wette. Die Wandelhalle zierten antike, brüchige Urkunden und Standarten der verschiedenen Völker der RSFSR. In zarten, klaren Farben war der Saal gehalten: Inseln aus rosa Rosen und große Farne, und vor einem transparenten blau-weißen Vorhang strahlend weiß die Umrisse Rußlands — von der Ostsee bis nach Alaska — auch ohne die Rest- UdSSR immer noch der größte Staat der Erde. Der Vorhang schmolz zu einer hauchdünnen Gazeschicht und öffnete den Raum weit nach hinten, als zuerst ein Militärorchester, später ein großer Chor mit Weisen aus Glinkas Oper Iwan Susanin auftraten. Purpurgekleidete Herolde begleiteten den frischgebacken Präsidenten mit Trompeten zur Eidesabgabe. „Das große Rußland erhebt sich von den Knien“, sagte Jelzin in seiner Inaugurationsrede. „Erstmals in ihrer tausendjährigen Geschichte haben die Völker Rußlands selbst ihre Wahl getroffen. Sie haben dabei nicht so sehr eine Persönlichkeit gewählt, und auch keinen Präsidenten, sondern den Weg, den ihre Heimat künftig gehen wird.“ Die Hauptrede des Tages hielt der Patriarch der russisch orthodoxen Kirche, Alexij. Er wünschte Boris Nikolajewitsch Geduld und Weisheit und beschwor den Segen der orthodoxen Märtyrer Boris und Chleb auf ihn herab. In den letzten 70 Jahren sei den Einwohnern Rußlands die Freude an geistiger und körperlicher Arbeit ausgetrieben worden. Deshalb müsse man den Bürgern mit „anthropologischem Realismus“ gegenübertreten, zu ändern seien sie „weder über Nacht noch in 500 Tagen“. Der Patriarch verlas eine Glückwunschadresse der Vertreter aller christlichen, mohammedanischen und jüdischen Glaubensgemeinschaften im russischen Parlament.

Dutzende von verschiedenen Völkern und Glaubensgemeinschaften auf dem Boden Rußlands erblickten in einem einheitlichen russischen Staat das Unterpfand ihrer Zukunft, versicherte auch Präsident Gorbatschow. Und begegnete damit indirekt Gerüchten, er beabsichtigte die Minderheiten in Rußland gegen Jelzin aufzuwiegeln. Nachdrücklich gratulierte er dem präsidialen Kollegen, als habe er endlich sein Herz über die Hürde geworfen. Er beschwor eine neue historische Phase der Zusammenarbeit zwischen Rußland und dem UdSSR-Zentrum. Stehend applaudierten die festlich gekleideten Abgeordneten und Vertreter der sowjetischen und ausländischen Presse, als Gorbatschow auf Jelzin zuging und ihm die Hand reichte. Einen kleinen Nadelstich hatte er sich allerdings zu Beginn seiner Rede erlaubt: „Manche Leute werden heute sagen: Na und wenn schon, dann haben wir eben noch einen Präsidenten mehr im Land.“