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„Das Gesicht ist das gleiche“

Erste Zeugenaussage eines Holocaust-Überlebenden im Prozeß gegen den ehemaligen NS-Lagerkommandanten Josef Schwammberger/ Selektives Erinnerungsvermögen des SS-Oberscharführers im Prozeß  ■ Aus Stuttgart Edgar Neumann

„Der ist glatt neben meine Füße gefallen“, sagt der 65jährige Zeuge vor der neunten Strafkammer des Stuttgarter Landgerichts, als er dem Gericht berichtet, wie der frühere SS- Oberscharführer Josef Schwammberger im September 1942 einen jüdischen Rabbiner beim abendlichen Appell im Zwangsarbeitslager Rozwadow erschossen habe. „Sie, Rabbiner Fränkel, Sie werden wegen Sabotage erschossen“, soll der Lagerkommandant damals gesagt haben, bevor er Fränkel mit zwei Pistolenschüssen tötete. Anschließend, so der heute in Israel lebende Zeuge, seien die umstehenden Mitgefangenen von Schwammberger aufgefordert worden: „Schafft diesen Haufen Dreck weg.“ Der Mann, der als einziger einer 82köpfigen jüdischen Familie den Holocaust überlebte, sagte aus, er sei Anfang September 1942 von seiner Heimatstadt Wielicka mit einem Judentransport nach Rozwadow gebracht worden. Dort habe er bei der Ankunft beobachtet, wie Schwammberger am Eingang zum Lager einen jüdischen jungen Mann erschoß, der entgegen der Anweisung der ukrainischen Wachmannschaften seinen Schmuck und seine persönliche Habe nicht ablieferte. Ob er in dem Mann auf der Anklagebank den früheren Lagerkommandanten wiedererkenne, will die Kammer von dem Zeugen wissen. „Er hat sich verändert, aber das Gesicht ist das gleiche“, lautet die Antwort.

Der 79jährige Angeklagte hört die Aussage des Holocaust-Überlebenden mit unbewegter Miene, die Mundwinkel leicht gesenkt und den Blick gelegentlich zur Decke des Gerichtssaals gerichtet. Am Ende des vierten Prozeßtages lehnt der mutmaßliche NS-Verbrecher eine Stellungnahme zu der Zeugenaussage vorerst ab. Bereits am ersten Verhandlungstag hatte Schwammberger bestritten, an Erschießungen aktiv teilgenommen zu haben.

Insgesamt wird dieser wohl letzte große NS-Prozeß durch die eingeschränkte Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten geprägt. „Herr Schwammberger, wir können doch die Verhandlung zunächst noch fortsetzen“, hatte der Vorsitzende Richter Herbert Luippold mit der Stimme eines Krankenpflegers den gebrechlich wirkenden früheren SS-Oberscharführer am vergangenen Verhandlungstag noch gefragt. Auf den Einwand der Verteidiger, ihr Mandant sei für heute erschöpft, stellte Luippold fest, Schwammberger mache doch noch einen recht konzentrierten Eindruck. „Nein, der Schein trügt, Herr Vorsitzender“, schaltete sich der mit solcher Fürsorge bedachte 79jährige Angeklagte daraufhin selbst ein.

Über Sein und Schein in diesem Verfahren machen sich nach vier Verhandlungstagen einige der zahlreichen Prozeßbeobachter ihre eigenen Gedanken. So hatte zwar ein medizinischer Gutachter aus München Schwammberger vorerst bescheinigt, unter den gegenwärtigen Bedingungen — also pro Tag maximal zwei mal zwei Stunden Prozeßdauer — verhandlungsfähig zu sein, eine abschließende Beurteilung aber von weiteren Untersuchungen des Angeklagten abhängig gemacht. Der frühere Lagerkommandant leide zwar unter Konzentrationsschwächen und unter mangelhaftem Kurzzeitgedächtnis, ob jedoch auch bereits eine Altersdemenz einsetze, steht für den Sachverständigen noch nicht fest. Angesichts dieser Zweifel ist die interessierte Prozeßöffentlichkeit bisher auf eigene Beobachtungen angewiesen. So fällt auf, daß sich der mutmaßliche NS-Verbrecher zwar an viele auch lang zurückliegende nebensächliche Einzelheiten aus seinem Leben genau erinnern kann, an einschneidende Erlebnisse in der Zeit als Kommandant der polnischen Arbeitslager Rozwadow, Przemysl und Mielec nach eigenen Aussagen jedoch kaum Erinnerungen hat. Als ihn die Kammer zum ersten Mal mit einer der vielen SS-Greueltaten konfrontiert, die laut Anklage mit seinem Wissen oder gar auf seinen Befehl hin gegenüber Juden begangen wurden, verneinte Schwammberger zunächst, überhaupt etwas von der „Aussiedlungsaktion“ in dem von ihm geleiteten Ghetto A in Przemysl mitbekommen zu haben. Schließlich räumte der ehemalige Lagerkommandant nach langen Pausen ein, die Gestapo habe ihn an jenem Septembermorgen im Jahr 1943 früh aus dem Bett geholt. Eine eigene Beteiligung an der „Aktion“, in deren Verlauf, so die Staatsanwaltschaft, mehr als 3.000 jüdische Frauen, Männer und Kinder erschossen wurden, bestritt Schwammberger dagegen entschieden. Auch den Abtransport von Juden in Vernichtungslager habe er nicht mitbekommen: „Das war alles eine Sache der Gestapo. Ich habe nichts damit zu tun gehabt.“ Kurze Zeit nach der „Aussiedlung“ reiste der damalige SS-Oberscharführer, so seine Darstellung vor dem Schwurgericht, sogar eigens nach Krakau, um bei seinen Vorgesetzten „unbedingt“ um Versetzung nachzusuchen, damit „ich mit der Judensache nichts mehr zu tun habe“. Solche und andere Äußerungen nähren bei der Zuhörerschaft den Verdacht, Schwammbergers Gedächtnis könnte möglicherweise besser sein, als er selbst es darstellt. Auf die Frage, wie viele Juden bei der „Aussiedlung“ getötet wurden, machte seine Antwort: „Ich hab' sie nicht gezählt, sie wurden mir nicht zahlenmäßig zugeteilt“, sehr nachdenklich. Als es um die Vernehmungen während seiner Haftzeit in Innsbruck durch die österreichische Justiz im Jahr 1945 ging, in deren Verlauf er zugegeben haben soll, mindestens 30 Juden erschossen zu haben, zog sich Schwammberger auf die Aussage zurück, man habe ihn teilweise zur Unterschrift unter die Vernehmungsprotokolle gezwungen. Die damals laut Protokoll von ihm eingeräumten eigenhändigen Erschießungen kommentiert er mit dem Satz: „Das ist ja unmöglich.“

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