Notbremse gegen RAF-Auseinanderlegung

Mit einem internen Papier versucht der Verfassungsschutz Einfluß auf die aktuelle Debatte zu gewinnen/ Generalbundesanwalt von Stahl trat im Mai ohne Not eine Diskussion los, die schnell ein gefährliches Eigenleben entwickelte  ■ Von W. Gast/G. Rosenkranz

Gelegentlich fühlt sich der Verfassungsschutz berufen, die Verfassung gegen ihre eifrigsten Verfechter zu schützen. Dieser Eindruck jedenfalls stellt sich bei der Lektüre einer internen Analyse zum „Zustand der Roten Armee Fraktion“ ein, die der taz vorliegt. Auf zwanzig Seiten versuchen die Staatsschützer Dämme gegen eine Debatte zu errichten, die der Karlsruher Generalbundesanwalt Alexander von Stahl im Mai losgetreten hat und die seither ein brisantes Eigenleben entwickelt.

Im Kern geht es um die Frage, ob Gefangene aus der RAF, von denen einige zu dritt oder viert regelmäßig zusammensein können, erneut voneinander isoliert werden sollen oder nicht.

Der oberste Ankläger der Republik hatte seinerzeit geglaubt, seine angeblich neuen Erkenntnisse über die vielfältigen Aktivitäten inhaftierter RAF-Genossen der Öffentlichkeit vortragen zu müssen. „Ziel der Zusammenlegung war und ist für die RAF allein die Verbesserung ihrer Kampfbedingungen. Entscheidend ist die Freilassung der Gefangenen“, verkündete von Stahl im Fernsehen, erging sich in Andeutungen über eine geplante Entführung und spekulierte über einen bevorstehenden neuen Hungerstreik. Schließlich ließ der Rebmann-Nachfolger durchblicken, er trete unter diesen Umständen für eine erneute Verschärfung der Haftbedingungen ein.

Eine mittlere Katastrophe, meinen die Verfassungsschützer. Die Folgen einer Trennung der Gefangenen müßten unweigerlich „zu einer erneuten Verhärtung und möglicherweise Mobilisierung alter und neuer Unterstützer führen“. Das wäre besonders deshalb fatal, glauben die Autoren, weil sie die RAF und ihr Umfeld gegenwärtig in einer tiefen Krise wähnen. Eine verschärfte Isolation der Gefangenen könne nur „den Hardlinern in der RAF“ helfen, den schwelenden Streit über die Rollenverteilung zwischen Untergrundkommando, Gefangenen und Unterstützern ad acta zu legen und die gelichteten Reihen erneut fester zu schließen. Zugespitzt formuliert: Wer jetzt die Auseinanderlegung verlangt, macht sich nach Ansicht des Verfassungsschutzes ungewollt der „Unterstützung einer terroristischen Vereinigung“ schuldig.

RAF bestreitet Zellensteuerung

Von Stahls TV-Auftritt rief seinerzeit sogleich — und wenig überraschend — die Freizeitfahnder aus der zweiten Reihe auf den Plan. Zum Beispiel den CDU-Fraktionsvorsitzenden im Düsseldorfer Landtag, Helmut Linssen: „Wir müssen verhindern“, beschwor der Politiker den nordrhein-westfälischen Justizminister Rolf Krumsiek, „daß die in Köln-Ossendorf einsitzenden Terroristinnen Christa Eckes, Sieglinde Hofmann, Ingrid Jakobsmeier und vor allem Adelheid Schulz die Haftanstalt weiterhin als eine der Befehlszentralen für Terrorakte mißbrauchen.“ Die von Krumsiek nach dem letzten Hungerstreik im Frühjahr 1989 halbherzig verfügte Zusammenlegung der vier Frauen sei zu „einem nicht mehr kalkulierbaren Risiko geworden“. Linssens Lösungsvorschlag: Auseinanderlegung.

'Welt‘ und 'Spiegel‘ legten nach: Portionsweise zitierten sie aus 7.000 Blatt Papier, die Staatsschutzbeamte im März in den Zellen der Gefangenen beschlagnahmt hatten. Es sei „eindeutig“, daß die einsitzenden Gefangenen „mittlerweile aus den Gefängnissen heraus die Führung der bombenden und schießenden Komplizen übernommen haben“. Einmal ins Spiel gebracht, entwickelte sich die Uralt-These von der Zellensteuerung der RAF-Anschläge erneut zum Selbstläufer. Nicht nur die nordrhein-westfälische CDU kochte ihr parteipolitisches Süppchen auf den angeblich neuen Erkenntnissen. Die Forderung nach Trennung der Gefangenen gewann auch in Bonn Freunde. Allerdings wollte niemand unter der nächsten RAF-Kommandoerklärung lesen, der Anschlag sei eine Reaktion auf die erneute Haftverschärfung. Man einigte sich auf einen Kompromiß: Auseinanderlegung nicht vor, sondern nach dem nächsten Anschlag. Dann sollen auch die bereits nach dem Rohwedder-Mord debattierten Gesetzesverschärfungen etwa bei der sogenannten „Umfeldüberwachung“ endgültig durchgesetzt werden.

Verfassungsschützer und fachkundige Bonner Spitzenpolitiker haben zwar wiederholt erklärt, daß die ideologische Führung der RAF zunehmend von den Gefangenen übernommen werde. Ein konkrete Planung und Steuerung von Aktionen schlossen sie jedoch aus — auch weil sie dem Selbstverständnis der Gefangenen widerspräche. Die RAF meldete sich aus dem Untergrund zu Wort und nannte die Behauptungen von der Zellensteuerung und einer geplanten Entführung Teil des „Staatsschutz-Lügengebäudes“. Die Gefangenen selbst empfinden die ausufernde Diskussion über ihre Haftbedingungen als „üble Hetzkampagne“. Deren Betreibern gehe es darum, schrieb kürzlich Eva Haule an ihre Mutter, „die ganze Auseinandersetzung zurück auf die Ebene von Polizei und Geheimdienst zu zerren“. Haule dementierte in dem Brief auch die These vom angeblich bevorstehenden neuen Hungerstreik: „...im Gegenteil, wir sind darauf aus, anders zu Lösungen zu kommen“.

Verfassungsschutz: „RAF politisch am Ende“

Das 20-Seiten-Papier des Verfassungsschutzes, das Mitte Juni entstand, soll die Hardliner aus Staatsschutz und Politik offenbar zur Mäßigung bewegen. Zwar sei „der Kommandobereich der RAF personell und logistisch jederzeit in der Lage, Mordanschläge zu begehen“. Ansonsten jedoch malen die VS- Exegeten ein tristes Krisengemälde von den vier Ebenen der Gesamt- RAF (Kommandobereich, Gefangene, Militante und in der Legalität lebende Unterstützer). Im Kommandobereich konstatieren sie „ein Defizit in ideologisch-konzeptioneller Hinsicht“, was sich beispielsweise „bei der sehr unterschiedlichen Auswahl der letzten Opfer“ und der „Qualität der Bekennungen“ zeige. Sie enthielten (Ausnahme Rohwedder) „Phrasen und Gedanken, die offensichtlich schriftlichen Äußerungen einzelner Gefangener entnommen“ worden seien. Die „Gefühlswelt“ der Gefangenen sei „geprägt von Frustration bis Ärger über die Inaktivität der außerhalb der Gefängnisse agierenden Unterstützer“. Offenbar gebe es erhebliche „Verständnisprobleme“ zwischen beiden Ebenen. Im übrigen freuen sich die Verfassungsschutz-Autoren über einen „bundesweit desolaten Zustand“ der legalen Szene, der sich zum Beispiel in einem erkennbaren „Konkurrenzverhalten“ zwischen alten und nach dem letzten Hungerstreik hinzugestoßenen Unterstützern manifestiere. In letzter Zeit verstärkt kursierende Theorie-Papiere aus der legalen Szene würden im Knast teils gnadenlos verrissen. Christian Klar nennt ein längeres Schreiben aus der „alten“ Hamburger Szene schlicht „Mist“. Da müsse „eine Stube bewußt ausgelüftet werden“. Andere Gefangene nennen die Papiere von draußen „schrecklich“, „kaputt“ oder „metropolenmäßig“. Das Verhältnis zwischen drinnen und draußen, frohlocken die Verfassungsschützer und zitieren eine Besucherin der inhaftierten Gabriele Rollnik, sei „wie eine Ehe, die auseinanderkrache“. Das für die RAF niederschmetternde Resümee ihrer Beobachter aus dem Verfassungsschutz: „Weder Kommando noch Gefangene oder Unterstützer haben ein Konzept für ihr weiteres Vorgehen. Sie sind im Prinzip mit dem, was sie Politik nennen, am Ende.“

Die Botschaft des Papiers liegt auf der Hand. Konstatiert wird eine Selbstverständniskrise der RAF, die in der Vergangenheit von „erfolgreichen“ Anschlägen mehr schlecht als recht kaschiert wurde. Die Diskussion über eine erneute Verschärfung der Haftbedingungen kann, so die Befürchtung der Autoren, der RAF aus dem Tief helfen. Sollte beispielsweise die Kleingruppe der vier inhaftierten Frauen in Köln-Ossendorf auseinandergerissen werden, könnte rasch passieren, was am Anfang der Spekulationen stand: ein neuer Hungerstreik, begleitet von einer Welle militanter Aktionen. Ein typischer Fall von „self-fulfilling prophecy“. Die gilt im übrigen auch umgekehrt. Einem weiteren Anschlag folgt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Auseinanderlegung — auch ohne Zellensteuerung.