Die gescheiterte deutsche Revolution

Über eine halbe Million Menschen in 350 Orten der DDR nahmen im Juni 1953 an den Protesten gegen das SED-Regime teil. Nur der Einsatz sowjetischen Militärs konnte den Zusammensturz verhindern. Am 17.Juni verhängte der sowjetische Stadtkommandant den Ausnahmezustand über Berlin. Die Führungsspitze war geschockt von der Wucht: „Es geht jetzt darum, ob wir oder sie“/ Die Juni/Juli-Ereignisse von 1953/ Teil2  ■ VON ARMIN MITTER

BERLIN

Am 16. Juni 1953 streikten bereits die Mehrzahl der Berliner Betriebe. 10.000 Demonstranten standen an diesem Tag vor dem Haus der Minsterien und forderten den Sturz der Regierung sowie die Abhaltung freier Wahlen, was natürlich das Ende der SED-Herrschaft bedeutet hätte. Einen Tag später überschlugen sich die Meldungen. In Berlin hatte sich die Zahl der Demonstrierenden im Verhältnis zum Vortag verzehnfacht. Mehr als 500.000 Personen aller sozialen Schichten beteiligten sich in über 350 Orten an den Protesten gegen das SED-Regime. Von der Wucht der Aktionen war selbst die sowjetische Besatzungsmacht schockiert. Ohne den Einsatz des sowjetischen Militärs konnte der Zusammenbruch der SED-Herrschaft nur eine Frage von Tagen sein. Am 17. Juni um 12.00 Uhr verhängte der sowjetische Stadtkommandant für Berlin den Ausnahmezustand. Das gleiche geschah in 167 von 217 Stadt- und Landkreisen der gesamten DDR.

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Die Lage ist außerordentlich ernst. „Es geht jetzt darum, wir oder sie“, erklärte der Minister für Staatssicherheit, Wilhelm Zaisser, am Nachmittag des 17. Juni, als sowjetische Panzer Demonstranten niederwalzten und der ungleiche Kampf bereits entschieden war. Am 18. Juni leitete die Führung des MfS eine massive Verhaftungswelle ein. Durch einen von Erich Mielke unterzeichneten Befehl erhielten die Bezirksverwaltungen die folgende Anweisung: „Wo Ausnahmezustand verhängt, sind Streikleitungen, die Streiks organisiert haben, a) unter Losungen: ,Nieder mit der Regierung, nieder mit der SED‘, ohne vorherige Prüfung, b) unter ökonomischen Losungen wie: ,Lohnerhöhungen, Herabsetzung der Normen, niedrigere Preise, allgemeine geheime Wahlen‘, nach Überprüfung der einzelnen Mitglieder, festzunehmen...“ Allein in Berlin wurden durch die Volkspolizei und das MfS bis zum 19. Juni 1.744 Personen verhaftet. Darunter befanden sich zwei komplette Streikleitungen und fünf weitere, die „die Funktion einer solchen ausübten“. Am 23. Juni waren 6.325 Personen inhaftiert, ungefähr zwei Drittel davon in den Dienststellen des MfS, davon wiederum mehr als ein Drittel in der Berliner Zentrale. Umso bemerkenswerter ist es, daß noch am 21. Juni beispielsweise mehr als die Hälfte der Belegschaften der Bau-Unionen nicht arbeitete. Die andauernde Verhaftungswelle hatte aber dazu beigetragen, daß — insgesamt gesehen — nur noch vereinzelt gestreikt wurde. Aber noch zu diesem Zeitpunkt befürchtete man in der Zentrale des MfS den Ausbruch eines Generalstreiks. Erst im MfS-Tagesbericht vom 24. Juni stand: „Die Lage in Berlin und in der Deutschen Demokratischen Republik war am 24. Juni 1953 absolut ruhig. Irgendwelche Ereignisse, Streiks, Demonstrationen usw. sind nicht vorgekommen.“

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Parallel zu den Repressivmaßnahmen gegen wirkliche und vermeintliche Initiatoren der Aktionen um den 17.Juni suchte die SED-Führung, gestützt durch die sowjetischen Bajonette, ideologisch wieder in die Offensive zu gelangen. Am 22. Juni erschien in einer einseitigen Extra- Ausgabe des 'Neuen Deutschland‘ eine Erklärung des ZK unter der Überschrift „Über die Lage und die unmittelbaren Aufgaben der Partei“. Darin wurde über die auf der 14. Tagung des ZK gefaßten Beschlüsse berichtet. Unter anderem verkündete die Parteiführung, „daß die Funktionäre des zentralen Apparates in den Betrieben und in den Kreisen mit dem morgigen Tage in die Betriebe gehen“. Bereits zwei Tage später begann das 'ND‘ in großer Aufmachung Erfolgsmeldungen vom Auftreten der Spitzenfunktionäre zu drucken, bei denen „Tausende einstimmig und kategorisch von den Provokateuren abrückten und den von ihnen und ihren Westberliner Hintermännern inszenierten Putsch als einen Versuch der Faschisten verurteilten, die Verwirklichung der neuen Beschlüsse der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik unmöglich zu machen und die Brandfackel des Krieges zu entzünden“. Die Wirklichkeit sah allerdings anders aus. Abgesehen davon, daß es sich oft um einen vorher ausgewählten Teil der Belegschaften handelte — zumindest, wenn Spitzenfunktionäre auftraten —, dominierte weitgehend Kritik am Kurs der Regierung die Diskussionen. In den Stellungnahmen offenbarte sich zudem eindeutig die Politisierung breiter Teile der Bevölkerung nach dem 17. Juni.

Zwar nahmen bestimmte betriebsspezifische Mängel und die Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen Situation breiten Raum in den Diskussionen ein — darauf konzentrierte sich aus naheliegenden Gründen auch die SED-Berichterstattung, wenn überhaupt auf kritische Äußerungen der Werktätigen eingegangen wurde. Mehr oder weniger offen standen jedoch politische Forderungen im Mittelpunkt. Damit sah sich auch Walter Ulbricht am 24. Juni in den Leuna-Werken konfrontiert. In einer „Besprechung zwischen geladenen Gästen und dem stellv. Ministerpräsidenten, Gen. Walter Ulbricht“, hieß es im MfS-Bericht, „stand im Vordergrund die Forderung nach Redefreiheit, die sie schriftlich bescheinigt haben wollten, Entlassung der politischen Häftlinge, Trennung der Gewerkschaft von der Partei, Neuwahl der BGL usw.“. Noch ernüchternder müssen die Eindrücke des Politbüromitglieds Fred Oelsner gewesen sein, der in einer Versammlung am 26. Juni im Buna-Werk in Schkopau auftrat, an der 600 Arbeiter teilnahmen. Lapidar, aber vielsagend meldete das MfS: „Die Versammlung artete in eine wüste Provokation aus.“ Eine vom Parteisekretär des Werkes verlesene Resoluton, in der sich die Teilnehmer der Veranstaltung von den „Provokateuren“ des 17. Juni distanzieren sollten, wurde „mit großer Stimmenmehrheit nicht angenommen.“

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Zweifellos mußte die politische Führung immer mehr erkennen, daß nur durch massive Repression der Ausbruch erneuter Unruhen verhindert werden konnte. So wurden beispielsweise nach der Veranstaltung in Schkopau vier „Rädelsführer“ sofort verhaftet. „Es wird immer noch beobachtet, daß sich ein großer Teil der Bevölkerung in öffentlichen Diskussionen zurückhält oder sehr vorsichtig diskutiert. Stimmen, die sich in gemeinster Art und Weise gegen die Regierung richten, werden dem Anschein nach geringer. Das ist teilweise darauf zurückzuführen, daß Gerüchte im Umlauf sind, die von schweren Strafen sprechen.“ Daß es sich nicht nur um Gerüchte handelte, dürfte dem Verfasser des zitierten MfS-Berichtes vom 1. Juli 1953 sicherlich bekannt gewesen sein. Nach einer ersten Schätzung geht schon aus den Materialien des MfS hervor, daß zwischen dem 17. Juni und dem 1.Juli 1953 8.000 bis 10.000 Personen inhaftiert gewesen sein müssen. Darüber, wieviele Verhaftungen sowjetische Organe vornahmen, fanden sich in den bisher durchgesehenen Akten keine genauen Angaben.

Trotz weiterer Zugeständnisse an die Bauern kam die angestaute Unzufriedenheit auch nach dem 17. Juni auf dem Lande massiv zum Ausbruch. Bis zum 1. Juli lösten sich 1,1Prozent der LPG auf. Zu diesem Zeitpunkt wurde im MfS davon ausgegangen, daß die „Gesamtzahl der aufgelösten LPG die Zahl von zwei Prozent von den bestehenden LPG unter keinen Umständen übersteigen“ werde: „Es ist sogar zu erwarten, daß von den bevorstehenden Auflösungen von 113 LPG sich die Mehrzahl dieser aufgrund des jetzt verstärkten Einsatzes des Partei- und Staatsapparates nicht auflösen werden. In der Mehrzahl haben sich die LPG auf Grund der letzten Ereignisse ideologisch und organisatorisch gefestigt.“

Auch in dieser Einschätzung kommt zum Ausdruck, welche Hoffnungen die Partei- und Staatsführung an die verkündete ideologische Offensive knüpfte. Ebenso wie in den Industriebetrieben scheiterten jedoch die Bemühungen, durch Überzeugungsarbeit die Landbevölkerung für den neuen Kurs zu gewinnen, der zwar ein gemäßigteres Vorgehen bei der Kollektivierung versprach, aber eindeutig auf die „sozialistische Umgestaltung“ auf dem Lande hinauslief. Letzterem sollte ja gerade der „verstärkte Einsatz des Partei- und Staatsapparates“ dienen.

Die dabei gehegten Hoffnungen erwiesen sich jedoch bald als völlig unbegründet. Vielmehr verlief die Entwicklung in entgegengesetzter Richtung. Am 18. Juli konstatierte das MfS: „Bisher haben sich also 4,3Prozent der LPG aufgelöst. Weitere 5,3Prozent von allen LPG beabsichtigen sich noch aufzulösen. Damit wird die Zahl der aufgelösten LPG auf 10Prozent gesteigert. In weiteren 10Prozent von allen LPG haben zahlreiche Mitglieder ihren Austritt erklärt und ihren Betrieb wieder in Einzelbewirtschaftung übernommen.“ Der Auslösungsprozeß der LPG vor allem im Juli 1953 vermittelt aber nur indirekt einen Aufschluß über die Stimmung der Landbevölkerung. Der Austritt aus einer LPG muß auch als Reaktion der Bauern auf den neuen Kurs gesehen werden, indem sie die sich bietende Möglichkeit nutzten, ihre wirtschaftliche Lage zu verbessern.

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Weitaus deutlicher kam die Protesthaltung breiter Teile der Landbevölkerung in Bauern- und Gemeindeversammlungen zum Ausdruck, die ebenfalls im Zusammenhang mit der ideologischen Offensive der SED durchgeführt wurden. In den Beständen des MfS finden sich eine Vielzahl von Berichten, in denen sich die Gegnerschaft zur Regierung in geradezu drastischer Weise offenbart. Um zu verdeutlichen, wie derartige Versammlungen abliefen, sollen einige Auszüge aus dem MfS-Bericht über die am 15.Juli 1953 in Kribitz, Kreis Plauen, durchgeführte Bauernversammlung zitiert werden: „Zu Anfang der Versammlung machte der Polit-Leiter der MTS einige Ausführungen über den Druschplan. Der Bauer H. leitete die Provokation ein und schrie: ,Halt die Gusche, Du Specker‘. Nach dem Referat über den neuen Kurs unserer Regierung sprach H. in der Diskussion folgendes: ,Der neue Kurs der Regierung ist falsch, was der Kreml sagt, bringt Unglück, kehrt um, vielleicht ist es jetzt noch Zeit, ihr seid die falsche Straße gelaufen. Wir brauchen keinen Pieck und Grotewohl, die sollen abtreten. In drei Monaten ist Adenauer hier, dann sind wir befreit.‘ Der Bauer R. äußerte: ,Die Ernte soll verfaulen und die Pferde sollen sich zusammentreten.‘ Zum Bürgermeister sagte er: ,Zieh Deine Schuhe aus, die sind verkehrt, Eure Partei verrät Euch, sie hält nicht, was sie verspricht.‘ Der Malermeister F. stand auf und rief: ,Meine Herren, es ist fünf Minuten nach 12, der Tag der Abrechnung ist bald da. Der Rias, das ist der Sender. Alle Menschen, die in der Ostzone für die Menschenrechte kämpfen, werden eingesperrt, fünf Jahre Zuchthaus hat meine Frau dafür bekommen...‘ Der Bauer R. stand zum Schluß der Versammlung auf und sagte: ,Los, jetzt steht auf, und wir singen das Lied Deutschland, Deutschland über alles.‘ Der Rentner S. stimmte nachdem das Lied Freiheit, die ich meine an.“

Der Verlauf der Versammlung in Kribitz bildete durchaus keinen Einzelfall. In einer Vielzahl ähnlicher Zusammekünfte äußerten sich die Bauern noch weitaus drastischer, wobei insbesondere Walter Ulbricht die Zielscheibe heftigster Kritik bildete: „Warum sperrt man Ulbricht nicht ein? Wir brauchen nicht solche Pappfiguren, wie er eine ist, wir wollen selbst eine Regierung wählen“, äußerte beispielsweise unter tosendem Beifall ein Bauer am 7.Juli in Lindenberg, Kreis Potsdam.

Trotz der Anfang Juli unter der Landbevölkerung herrschenden aggressiven Stimmung ließen sich Fälle von offenem Widerstand nur sehr vereinzelt in den Akten feststellen. „Am heutigen Tage (gemeint ist der 13.Juli; d.A.) legten fünf Gemeindevertreter von Paplitz ihre Arbeit nieder und forderten den Rücktritt der Regierung. In beiden Fällen wurde eindeutig Kr. als Rädelsführer festgestellt. Von Kr. selbst ist bekannt, daß er in der Gemeinde das große Wort führt und sämtliche Maßnahmen der Regierung versucht, mit Argumenten des Hetzsenders Rias zu diskreditieren. Besonders enge Verbindungen unterhält Kr. mit dem Pfarrer des Ortes“, meldete ein MfS- Bericht. Kr. hatte bereits wenige Tage zuvor auf einer Bauernversammlung die Regierung heftig kritisiert und eine Resolution unterbreitet, in der die Freilassung von drei Einwohnern aus Paplitz verlangt wurde, die die Anwesenden einstimmig annahmen. Aktionen wie in Paplitz bildeten jedoch, wie bereits erwähnt, die Ausnahme. Demgegenüber kam es Anfang Juli wieder zu Streikandrohungen und Streiks in den Industriebetrieben.

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Es handelte sich dabei zunächst um Streiks von nur wenigen Stunden, in deren Mittelpunkt ökonomische Forderungen wie Lohnerhöhungen, Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Arbeitsorganisation standen. So wurde beispielsweise im Klement-Gottwald-Werk in Schwerin am 9.Juli die Arbeit niedergelegt. Tags darauf erschien immerhin der Staatssekretär für Schwermaschinenbau, Lunkewitz, mit einem Vertreter des ZK sowie einem Vertreter des Ministeriums für Arbeit und Löhne im Werk. Lunkewitz erklärte in einer Belegschaftsversammlung, daß die geforderte Erhöhung der Löhne nicht erfolgen könne, versprach aber andere, die Arbeitsorganisation im Betrieb betreffende Probleme zu klären. Darauf verweigerten 25 von 70 Arbeitern in der folgenden Nachtschicht am 10.Juli erneut die Arbeit. Der anwesende Parteisekretär forderte die Streikenden erfolglos zur Arbeitsaufnahme auf. Kurzerhand ließ er die beiden Wortführer, den Schlosserbrigadier P. und den Schlosser W. „in Anwesenheit der streikenden Arbeiter“ festnehmen, die dadurch offenbar so eingeschüchtert wurden, daß sie die Arbeit wieder aufnahmen. Interessant erscheint, was die Staatssicherheit in bezug auf W. berichtete: „W. war im Jahre 1952 im Werk unter dem Spitznamen ,Rias‘ bekannt und hat sich schon vor den Ereignissen durch reaktionäre Auffassungen hervorgetan. So z.B. schlug er mit der Faust auf den Tisch und rief: ,Wenn wir den Frieden und die Einheit Deutschlands haben wollen, gibt es nur eins, unsere Volkspolizei und die Grenze weg, eine geheime, ehrliche Wahl durchführen und nicht eine solche Schiebung wie im Oktober 1950, und dann werden wir weiter sehen‘.“