Ein himmlisches Weihespiel

■ Meredith Monks lautsprachliche Oper »Atlas« als Europapremiere im Hebbel-Theater

Ein kleines Zimmer mit Bett und Fenster: die Tochter Alexandra. Ein Bügelbrett: die Mutter. Ein Sofa: der Vater. Alexandra wird es dort entschieden zu eng. Sie schaut aus dem kleinen Fenster, hat große Sehnsucht nach dem Glück der Ferne. Das singt sie, in einer Lautsprache ohne Worte, mit gestisch tänzerischem Ausdruck. Die Musik, komponiert von Meredith Monk und orchestriert von Wayne Hankin, der auch am Pult steht, ist wundervoll einfach, aber in ihrer Einfachheit äußerst differenziert. Sie legt für die Stimmen einen minimalistischen Teppich. Nur sie sind wichtig, sie sind das Medium des Ausdrucks in Meredith Monks Multimedia-Oper Atlas, die im Februar 1991 als Auftragswerk an der Housten Grand Opera uraufgeführt wurde und am Mittwoch im Berliner Hebbel-Theater ihre Europapremiere hatte.

Meredith Monk verzichtet auf Gesangstext, bedient sich einer Lautsprache vor der Sprache, jedem verständlich und frühere Verständnisschichten ansprechend als das Wort, der Begriff. Eine sinntiefe und zugleich zuhörerfreundliche Konzeption: Endlich muß ich nicht — wie sonst opernüblich — 90 Prozent unverständlichen Text nachtrauern.

Wenn Vater und Mutter (Thomas Bogdan und Christine Schadeberg) sich über Beliebiges unterhalten, intererssieren nicht die (fehlenden) Worte, die sie gesagt hätten, sondern ihre Haltung, ihre psychische Dynamik, mit der sie es tun. Der eigentümlichen Mischung der Gesangsstile zwischen klassischem Belcanto, reinem »Ausdrucksgesang«, Jazzigem und anderen Volksmusiken gelingt es, wo der sprachliche Begriff oft äußerlich bleibt, eine direkte Sprache des Inneren zu sprechen. Sie erreicht eine fast klassische »Clarte«: Die Musik badet nie im Gefühl, sondern schafft Distanz, zügelt die reine Expressivität der Stimmen durch ihren Minimalismus.

Alexandra singt ihre Träume von der Ferne, ihre Sehnsucht nach der wilden Weite. Ein Pferd wird projiziert. Schön, wie es so frei galoppiert. Aha, Fury, denke ich: Humor und Selbstironie haben sie zur Tiefe noch dazu. Aber sie scheinen es dann doch ernst zu meinen: Denn Alexandra wirbt — nun erwachsen, dargestellt von Meridith Monk selbst — Gleichgesinnte für ihre große Expedition in die Ferne. Jeder Kandidat hat einen musikalischen Tauglichkeitstest zu bestehen: Er muß auf eine musikalische Phrase »He-Jo« improvisieren. Es ist eine Frage nach seinem bisherigen Leben und seiner inneren Bereitschaft, Neues zu erleben. Drei sind tauglich, einer fällt durch — und auf geht's mit dem Flieger.

Erste Station: eine bulgarisch-folklorisierende Agrarkommune, kräftig arbeitend, aber ein glückliches Lied auf den Lippen. Zweite Station: eine arktische Bar mit drinkliebender Bevölkerung und einem sirenenhaften Eisdämon. Dritte Station: Unterricht in fernöstlichem Kampfsport. Vierte Station: irgendwo in Afrika, wo die Kamele Tango tanzen. Fünfte Station: ein alter Einsiedler oder Weiser unter Palmen.

Es sollte wohl eher eine Reise des Bewußtseins, eine Reise eher durch die innere als die äußere Welt sein. Denn schließlich hat das Team es geschafft: Sie steigen auf einer Leiter gen Himmel. Nur einer bleibt auf der Strecke: Er wird rückfällig und geht zurück in seinen Job als Designer. Folgerichtig — denn das business ist a priori zerstörerisch und böse — fährt er hinab in die Hölle. Unsere Protagonisten jedoch gehören fortan zu dem Kreis der (mit Taschenlampen) Erleuchteten. Es wird ihnen ein schwarzer, goldgefütterter Mantel angetan. Sie dürfen nun miteinstimmen in den Chor der Himmlischen, mitwandeln im schwebenden Ballett der Genien.

Alexandra, im Alter so zu sich gekommen (dargestellt nun von Sally Gross) hat nichts weiter zu sagen, einzig entspannt und voll zufriedener Rückschau über das Erlebte einen Kaffee zu trinken. Was am Anfang so vielversprechend begann, endet — bezeichnenderweise mit dem Auftreten Meredith Monks — in einem naiv- glücklichen New-Age-Destillat. Der Punkt, an dem sie ihre Expedition in die Ferne startet, ihr Aufbruch, ist die Wende zum Heilig-Positiven. Von nun an wird die Vielfalt des Lebens kastriert: Es fehlen Haß, Leiden, schwarze Seelen, Abgründe. So fehlt auch der Witz, der über Abgründen entsteht. Es bleibt einzig das Schmunzeln der Weisen, der seligen Genien über ein Leben, mit dem sie nichts mehr zu tun haben. Es bleibt die Langeweile leidenschaftsloser Göttlicher, denen alles im Leben zum Pittoresken verkommt (die naiv-kitschigen Kostüme sprechen da für sich).

Das Problem liegt nicht in der Ästhetik: Die musikalischen Mittel, der lautsprachliche Gesang, die gestische Bewegung sind ein wunderbares Potential. Das Problem liegt im Geistigen: Hier stellt sich jemand dümmer, als er ist; verarmt und verkürzt Leben im Glauben. Atlas ist religiöse Kunst, eine Weihespiel. Böse gesagt: Atlas ist eine feministische New-Age- Ethno-Fassung von Wagners Parzival. Hier wird Leben feinstofflich verstanden, quasi homöopathisch in immer höherer Potenz verdünnt, bis das Himmlische bleibt — für mich: die Heilige Langeweile. [Daß ein Leben in »höherer Potenz« oder Erleuchtung keinesfalls langweilig ist, zeigt wohl am deutlichsten unser christlicher Gott, Jesus: höchste Lebensenergie in einem absolut entspannten Körper, für uns »Primaten« kaum vorstellbar — d.S.] Deshalb, Euer Ehren, bitte ich um einen Platz in der Hölle, da wo die interessanteren Menschen sind. Wolfgang Böhmer