Vereinigung — gespielt und gewonnen

'Der Morgen‘ — eine deutsch-deutsche Zeitungsredaktion als funktionierender Mikrokosmos in der Ost-West-Auseinandersetzung/ Die Vereinigung gelang — und das ausgerechnet im Hause Springer  ■ Von Gisela Hoyer

Weil es den Menschen im realen Sozialismus à la DDR unter anderem an Anschauungsobjekten zum Thema Klassenfeind mangelte, zimmerten sie sich ein Bild zurecht. Eine Collage aus Tante Maria und Helmut Kohl. Doch selbst das beste Klischee hält der Konfrontation mit Realität nicht auf Dauer stand. „Ihr habt uns die ganzen schönen Vorurteile gegen den dümmlich erfolgverwöhnten Wessi versaut“, geäußert von einem Ostberliner 'Morgen‘-Journalisten, gerichtet an „Degler & Partner“, gekommen als (West-)Berater, geblieben als Führungsteam.

„Warum haben wir das alles mitgemacht?“

Bevorzugtes deutsch-deutsches Streitthema war die Zeitung beziehungsweise der Beruf. „Ihr seid nicht ernstlich Journalisten, ihr versteckt euch hinter ,man‘ und ,wir‘, ihr schert euch den Teufel um Fakten, ihr drückt euch um klare Aussagen, ihr behelligt die Leser mit eurem Gefühlsschmus“, hieß das Standardzeugnis über die, die sich in Jahrzehnten zu einer „Familie“ verbündeten und jetzt all die vergangenen halbherzigen Versuche verteidigen, Wahrheit und Wirklichkeit nebensatzweise ins Blatt zu schmuggeln.

Als die Reaktion beschloß, sich in einem Wochenend-Magazin zum 13. August 1990 öffentlich der Frage zu stellen, „Warum haben wir das alles mitgemacht?“, repräsentierte das einen Schritt sehr konkreter Blatterneuerung. Die Statements von 25 'Morgen‘-Leuten bildeten gerade in der Mixtur aus Aufrichtigkeit und fortgesetzter Lüge ein originäres Dokument für Aufarbeitung von Schuld und Verstrickung. Stichworte belegen dies: „das Ideal und die tägliche kleinen Schwächen“, „real-existierender Gehorsam“ oder „Anpassung“, „Zerrissenheit“, „Irrtum“ und „Verdrängung“ sowie „verloren gegangenes Vertrauen“. Da zu natürlich Zensur und Selbstzensur.

Es gehörte seit Beginn zur spezifischen Kultur dieses gemischt-deutschen Mikrokosmos für Auseinandersetzung, daß sich auch Wessis zu solchen Gegenständen äußerten. „Hat die Aufklärung das Lager gewechselt?“, titelte damals der einstige tazler J. die kritische Abrechnung mit eigenem Versagen und dem anderer West-Linker.

Sie wirkte, zumindest auf die Ambitionierten, anhaltend provokatorisch, die Feststellung, Ostjournalisten seien immer Handlanger der Mächtigen gewesen und müßten nun zu deren Kontrolleuren mutieren. Zusätzlich kränkte die beigefügte Entschuldigung: „Ihr konntet ja nicht dafür. 40 Jahre Unterdrückung entmündigen.“ Ob anhaltend, sollte herausgefunden werden, wobei die Regel galt: jeder hat die gleichen Chancen, keiner hat mehr recht, mehr Rechte. Wie sich in der Folgezeit erwies, nutzten die Gunst dieser „Stunde Null“ nicht alle. Der neue 'Morgen‘ wurde von einem kleinen aktiven Kern getragen. Manche gehen jetzt so hilflos in die Arbeitslosigkeit, wie lange zuvor waren.

Bei alldem erlebten sich die 'Morgen‘-Ossis zugleich als Teil der behinderten Menge Ostmenschen, die dem gesamtdeutschen Aufschwung im Weg steht wie sich selbst. Die Millionen jammernder, undankbarer Ex-Zonis, die erst die Mauer zu Fall gebracht haben und sich dann mit den großen Konsequenzen dieser Tat nicht abzufinden wissen. Der große beengende (und Geborgenheit schaffende) Kindergarten DDR mit all den bunten Wimpeln und neckisch-bösartigen Gepflogenheiten... Dahin.

Wenn ihn anfangs Freunde im Westen baten, den Job beim ehemals braven DDR-Blockparteien-Zentralorgan zu beschreiben, nannte Berater D. es „Gehirnwäsche“. Weil, siehe oben, die Ostler anhaltend konfliktscheu und harmoniesüchtig wären, seltsam unehrgeizig, unpräzise, unentschieden. „Ihr erklärt ständig, warum etwas nicht geht, ihr sagt dauernd ,vielleicht‘ und ,ein bißchen‘, ihr wißt nicht, was ihr wollt.“

Irgendwann fingen sie an, sich zu wehren. Als das Wort von den „Besatzern“ fiel, stimmte es nicht und war trotzdem genauso gemeint. Als verbale Ostmensch-Auflehnung gegen die aufdringliche, immerfort gegenwärtige Westmensch-Überlegenheit. Underdog-Gefühl, in Aggressivität gewendet. Denn auch im 'Morgen‘-Fall standen sich die beiden Sorten Deutsche zumindest für eine Weile ratlos und fremd gegenüber. Zuweilen sogar feindlich, wie in jener Frühkonferenz.

Springer-Herren, Wesen aus einer anderen Welt

Da hatte D. in wohlgesetzten, schneidenden Sätzen mitgeteilt, er sähe schwarz für die Zukunft der Zeitung, wenn sich nicht die Ostkollegen schleunigst entschlössen, ihren Arsch zu bewegen. Derart menschenverachtend dürfe man nicht mit Leuten umgehen, nuschelte hinterher tiefbeleidigt F., seit dreißig Jahren dabei, zwanzig davon in Leitungsämtern. „Kritik schon, aber nicht so vernichtend...“ Sie seien und blieben halt Wesen einer kalten anderen Welt, die Hamburger Herren, von Springer geschickt. Darin waren sich da noch viele einig, doch die Front zerbrach schnell.

„Die reden auch viel Blech“, resümierte für sich O., jung genug, mit dem aktuellen Ossi-Komplex vom Täter-Opfer-Sein locker umzuspringen. Andere, weniger autark , übten sich schon wieder in Opportunismus, entzogen sich, nach individueller Vita entschlossen oder eher kraftlos, der neuen Machtstruktur. Aber auch der Verführung durch zuvor ungekannte Möglichkeit der Arbeit. Ein begrenzter Kreis Zwanzig- bis Vierzigjähriger begriff schnell, ergab sich dem Spaß und der Anstrengung, dazu der Hoffnung, die phasenweise den Aufbruch der 'Morgen‘-Mannschaft begleitete.

Langsam kam Stolz auf die eigenen Leistungen

„Ihr“ und „Wir“, zuerst verbissen und als Brandmarkung von Verschiedenheit benutzt, wurde bald zu einer Art von Spielaufforderung. Das Spiel hieß Vereinigung, als optimales Ziel war gegenseitige Toleranz vereinbart. So fügte sich zum Crash-Kurs im Journalismus nach Weststandard ein psychosoziales Trainingsprogramm, Raum für heftige Ausbrüche und beiderseitiges bohrendes Nachfragen, Gelegenheit, Trennendes ebenso zu artikulieren wie Übereinstimmung, Ängste und Verunsicherung akzeptieren zu lernen und die Tatsache von 40 Jahren unterschiedlicher Zeitungsproduktion, in vielen der 'Morgen‘-Leute neues Selbstbewußtsein. Sogar diejenigen, die bereits wieder zu jeder Leitungsentscheidung Ja und Amen murmelten, auch diejenigen, die sich weiterhin beobachtend abseits hielten, ergriff wenigstens ahnungsweise Stolz angesichts dessen, was da geleistet wurde mit dieser Zeitung, in nur einem Jahr.

Als die Wessis die Redaktion kennenlerten, waren deren Mitarbeiter mehrheitlich ab 16.30 Uhr spätestens nicht mehr im Dienst. Die Ausrede „Termine“ verbot sich von selbst. Mit der späteren Deadline verlagerte sich für die Kerntruppe der Arbeitstag auf zehn bis zwölf Stunden. Anschließend ging es zum nächsten Griechen oder auf ein Bier, und die Diskussion dort ließ wenig aus zwischen Archipel Gulag, Krieg am Golf und anderswo, DDR-Altlasten, one world, 218 und Partnerschaft. Zunehmend zählte die Qualität von Argumenten, Offenheit verlieh der Auseinandersetzung besondere Spannung. So etwas habe er selten erlebt, sagte im Spätherbst beeindruckt der entschiedene Perfektionist Sch. und kam vom 'Spiegel‘ zum 'Morgen‘.

Westler, getarnt von einem Hauch Zynismus

Geprägt durch mehr soziale Wärme, die Ostler, getarnt durch einen Hauch von Zynismus, die Westler, so stritten und versöhnten sich die 'Morgen‘-Leute und irgendwann dazwischen wurde ein Keim von „gesamtdeutsch“ geboren. Jeder auf seine unverwechselbare Weise daran beteiligt waren: der ewige Außenseiter K., die kühle aschblonde N., der imponierende Musterschüler H., der wütende Preuße F., die quirlige K.-B., der vernünftige B., die stets einen klaren Kopf bewahrende G. und all die anderen. Mittendrin der Chefredakteur, der unterdessen und wider Willen zum Familienoberhaupt avancierte und heute nicht ohne Sorge über die Chance der 150 'Morgen‘-Menschen nachdenkt, ohne die Zeitung, auf dem gnadenlos freien Markt.

Insgesamt lief es hier übrigens merkwürdig andersherum: Während ansonsten die Leute sich am 9. November 1989 jubelnd in die Arme sanken, auch am 3. Oktober 1990 noch Gründe zum feiern sahen und sich inzwischen ernüchtert und mißtrauisch gegenüberstehen, bildet die 'Morgen‘-Story in ihrem letzten, besten Jahr ein Kontrastprogramm dazu. In der Ostberlienr Glinkastraße umarmten wir uns am Ende. Bei allem Jammer und Zorn über den Tod des Blattes hört man nichts von „alles umsonst gewesen“.

(Gisela Hoyer war stellvertretende 'Morgen‘-Chefredakteurin (Ost), in Abwicklung)