BUNA: „Das ganz große Sterben steht noch bevor...“

Das mitteldeutsche Chemierevier verendet langsam aber sicher/ Ehemalige „Stabsbereiche“ spielen Marktwirtschaft/ Ordnung-West für Chemiegiganten soll auch für sinkende Schiffe im Osten gelten/ Massenentlassungen werden keinen Protest zur Folge haben  ■ Von Steve Körner

Unentwegt klettern die Zahlen: 4.000 oder 5.000, 8.000 oder 9.000 zu Entlassende — wer weiß das schon noch so genau? Und wer will es eigentlich noch wissen?

Die Angst geht um im mitteldeutschen Chemierevier zwischen Bitterfeld und Böhlen. Auch die Angst, eine Einladung vom alten neuen Abteilungsleiter zu bekommen. Entlassungsgespräch. Da erzählen sie dir dann vom Sozialplan, von Umschulung und Arbeitsbeschaffung und Qualifizierung. Von Chancen. Aber du hörst gar nicht mehr richtig hin. Als könnten Geld und gute Worte noch irgendetwas ändern.

Auch die Fußballmannschaft im nahegelgenen Halle hat die Zeichen der Zeit erkannt. Als HFC Chemie hat man zwar kürzlich noch den Aufstieg aus der ersten Ost- in die zweite gesamtdeutsche Liga geschafft, vorm ersten Anpfiff aber wurde der Name geändert: „Chemie“ sei nicht mehr zeitgemäß, befanden nahezu 90Prozent aller Klubmitglieder.

Sie scheinen recht zu behalten. Denn im Revier wird augenblicklich vor allem abgespeckt, abgespeckt, abgespeckt. Die ehemaligen volkseigenen Großbetriebe, im rauhen Wind der weltweiten Konkurrenz im vergangenen Jahr auf das bescheidene Maß nur noch territorial bedeutsamer Platzhirsche geschrumpft, hungern sich gesund.

Durch Buna donnern ein-, zweimal die Woche gewaltige Explosionen. Die Karbidkumpel, nochmal in der alten, staubigen Ofenkluft, demontieren ihre eigene Vergangenheit, sprengen ihre alten Arbeitsplätze.

Der lange Abschied einer langen Chemietradition

Abschied von der Karbidchemie ist endgültig. Die Termine sind gemacht, die Ministerien informiert. Der letzte bislang noch in Betrieb befindliche von einstmals zwölf stolzen Karbidöfen mit Namen wie „W.I. Lenin“ oder „E.Thälmann“, wurde dieser Tage abgeschaltet. Das graue Gold der DDR-Volkswirtschaft, das Devisen sparte und dafür Ressourcen in unglaublichem Maße verschwendete, hat pünktlich nach einem Jahr Marktwirschaft abgewirtschaftet.

Die Kosten der längst vom Fortschritt überholten Karbidchemie sind zu hoch, die Umweltbelastungen noch immer unerträglich. Rund 100.000 Tonnen Staub und mehr als dreimal soviel SO2 verteilten die weder entschwefelten noch entstaubten Öfen jährlich übers Land. „Nicht schädlich“ sei das, behaupteten Werksvertreter und Parteibevollmächtigte jahrelang unisono. Ganz im Gegenteil: Was aus den beiden Buna-Schornsteinen übers Land wehte, gäbe sogar einen „guten Dünger“ ab für die Felder ringsum.

Die Erfinder dieser Sprüche, gestählte, gutbesoldete Parteisoldaten und Wirtschaftsfunktionäre, sind inzwischen gegangen worden. Oder aber sie sind noch immer da. Letztere sind in der Mehrheit — sie nennen sich jetzt ganz schlicht Manager und verteilen dieselben aberwitzigen Beschwichtigungsformeln an dieselben staunenden MitarbeiterInnen wie früher.

Nur daß sich deren Reihen in anderthalb Jahren unablässiger Entlassungen und Ausgliederungen beträchtlich gelichtet haben. Die Spekulationen reißen nicht ab. Wieder und wieder „bekennt“ sich die Treuhandanstalt zu den Sanierungskonzepten aus Leuna, Buna, Bitterfeld. Wieder und wieder folgen den Beteuerungen und Bekenntnissen keine Taten. 550 Millionen Mark, schrieben die Zeitungen jüngst, hätte die Treuhand vor kurzem für erste Investitionen in die Zukunft der mitteldeutschen Großchemie bewilligt. Die Zeitungen schrieben nicht, daß das Geld damit noch längst nicht wirklich verfügbar ist. Daß die Raumordnungsverfahren für die geplanten Investobjekte teilweise noch gar nicht begonnen wurden. Daß ihre Chancen überdies ziemlich schlecht stehen. Und daß die Treuhand im Gegenzug für Geld bisher noch immer schnelleren Personalabbau verlangte. Und bekam.

Der Streit geht bis in die Haarspitzen der Macht

Allein Leuna und Buna kosten die Berliner Megabehörde täglich rund zwei Millionen Mark. Trotz Kurzarbeit und Personalabbau produziert Buna seinen synthetischen Kautschuk und seine thermoplastischen Kunststoffe noch immer viel zu teuer. Der osteuropäische Markt, früher Abnehmer eines Viertels aller Buna-Produkte, ist seit dem Oktober 1990 komplett zusammengebrochen — gerade noch fünf Prozent des einstigen Volumens können dort abgesetzt werden. Die Verkäufe in die fünf neuen Länder sind von 78 Prozent im Jahr 89 auf jämmerliche 38 zurückgegangen. Nur auf den Ausbau des Absatzes in den alten Bundesländern und Westeuropa könnten die SED-Parteisekretäre, die ihn jahrelang verlangten, beharrlich in allerlei Kampfprogramme schrieben und doch nie bekamen, stolz sein: Mehr als die Hälfte aller Buna-Produkte gehen heute Richtung Westen. Was die immensen absoluten Verluste allerdings nicht ausgleichen kann.

Alle Pläne in puncto Umsatzentwicklung haben sich zerschlagen. Das bereits mehrfach überarbeitete und gestraffte Sanierungskonzept der Buna AG ist nichts als Makulatur.

Nicht anders ist die Sitaution in Leuna, wo die verbliebenen Mitarbeiter am letzten Maiwochenende auf das 75jährige Bestehen ihres Werkes zurückschauen konnten. Gefeiert wurde nicht. Grund: Kein Grund.

Fit und Leunarex, Leunikor und all die anderen ehemals heißbegehrten Konsumgüter aus dem Werk an der Saale, werden von den großen Kaufhauskonzernen nicht „gelistet“, folglich können sie auch nicht abgesetzt werden. Trotz aller Bemühungen der mit Wessis bestückten Marketingabteilung des Unternehmens, blieb der erhoffte Durchbruch bisher aus. Leuna wie das benachbarte Buna oder die gleichermaßen betroffenen Bitterfelder Chemieunternehmen, produziert vor allem Negativbilanzen. Und negative Schlagzeilen, wenn wieder mal ein paar hundert Liter Öl in die Saale laufen oder eine Klärstufe versagt oder Anwohner sich bei der Umweltaufsicht über den beißenden Geruch in der Luft beschweren. Das schreckt Investoren ab.

Der Streit um die mitteldeutsche Chemie geht währenddessen bis in die Haarspitzen der Macht. Mit den unterschiedlichsten Intentionen diskutieren alle mit, die Auseinandersetzungen gehen bis in die höchsten Bonner Regierungskreise.

Doch die Aufführung mit den namhaften Darstellern, teilweise gedreht an Originalschauplätzen und von Buna- und Leuna-ArbeiterInnen beklatscht, ist nur eine Schmierenkomödie. Helmut Kohl und Richard von Weizsäcker spielen dabei die Rollen der „Guten“, die mit sehr salbungsvollen Reden vor Ort hausieren gehen und sich „trotz aller Widerstände“ immer wieder für das Überleben des Revieres einzusetzen versprechen. Otto Graf Lambsdorff hingegen mimt einmal mehr den Schurken, den hinkenden Teufel, der aus der Ferne beängstigende Wahrheiten feilbietet.

Das unbedarfte Szenario zieht unerwartet gut. Kanzler und Präsident vermitteln bei allseits beachteten Besuchen vor Ort „begründeten Optimismus“ und nuscheln nur in Nebensätzen halblaut etwas von „zuvor nötiger Schrumpfung auf Kernbereiche“. Der Graf übersetzt anschließend ungebeten: Dauersubventionen könne es nicht geben. Ohne ist die Großchemie im mitteldeutschen Raum nicht lebensfähig. Na also.

Aus den Führungsetagen der Treuhand sickern dieselben Gerüchte. Immer wieder werden Papiere bekannt, die dem bevorstehenden und bereits in Gang befindlichen Personalabbau neue, höhere Ziele vorgeben. Aus der Schlankheitskur der Ex-Kombinate ist eine ganz gewöhnliche Magersucht geworden.

Erntete Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Gies noch vor Wochen wütenden Protest von allen nur möglichen Seiten, als er verkündete, von den einst 200.000 Arbeitsplätzen im Revier würden auf Dauer wohl nur 35.000 zu erhalten sein, so kommt eine im Auftrag der IG Chemie erstellte Studie des niedersächsischen Institutes für Wirtschaftsforschung unterdessen zu ganz ähnlichen Ergebnissen.

Eine Pipeline vom Westen nach Dresden

Drastischer Arbeitsplatzabbau, ursprünglich propagiert als einzige Möglichkeit, zum Ziel „wirtschaftliche Produktion“ zu kommen, ist nun nicht mehr der Weg, sondern das Ziel. Die Betriebe werden künstlich beatmet, um ihre möglichst reibungslose Abwicklung organisieren zu können.

Ostdeutschlands veraltete, uneffektive Chemie ist im wiedervereinigten Vaterland hochgradig überflüssig. Daran ändert auch die von Kohl bei seinem Buna-Besuch propagierte Lebenslüge vom „erhaltenswerten traditionellen dritten Standbein der deutschen Chemieindustrie an der Saale“ nichts. Die westdeutschen Standorte an Rhein und Main sind derzeit gerademal zu zwei Dritteln ausgelastet, Großkonzerne wie Bayer, BASF oder Hüls könnten die neuen Ostgebiete eigentlich komplikationslos mitversorgen.

Die Pläne dazu sind längst geschmiedet. Eine Pipeline soll aus den alten Bundesländern bis hinunter nach Dresden gezogen werden — nicht etwa, um wie von Leuna- und Buna-Bossen seit Monaten gefordert, westdeutsches Rohöl zur Weiterverarbeitung ins Revier zu pumpen und die Raffinerien in Leuna und Verarbeitungsbetriebe in Buna damit vom Sowjetöl unabhängig zu machen. Nein, Benzin und leichtes Heizöl aus dem Westen sollen nach Sachsen-Anhalt und Sachsen fließen. Es ist, als treibe man einen hölzernen Pflock ins Herz des lebenden Toten Mitteldeutsches Chemierevier.

Daraufhin protestiert Biedenkopf. Aber Biedenkopf protestiert ja immer. Gies (nun nicht mehr) hat auch protestiert, aber die Journalisten verlassen derweil schon mal den Saal. Die Betroffenen in den Betrieben dagegen schimpfen bloß. Auf die Chefs, die nicht mit der Sprache rausrücken. Auf die Politniks, die bloß quatschen und sich in einer Tour widersprechen. Auf den Betriebsrat, weil der auch bloß nix machen kann. Und auf sich selbst natürlich, weil man immer noch hier hockt und hofft, statt endlich auch zu packen und zu gehen.

Die Stimmung in den Arbeitskollektiven ist entsprechend mies. Seit Dezember vergangenen Jahres hat es beispielsweise bei Buna kein volles Gehalt mehr gegeben. Abschlags- und Nachschlagzahlungen wechseln sich in schöner Regelmäßigkeit ab. Nach den jüngsten Neueinstufungen in die westlichen Lohngruppen und der Anhebung der Löhne und Gehälter auf 60 Prozent des Westniveaus (berechnet am niedrigen bayerischen Satz!), weiß kaum mehr jemand in Buna, Leuna oder Bitterfeld, was er nun wirklich verdient.

Die Autoriträt der Meister: Nie mehr mit Arbeitern duschen

Die sogenannten „Stabsbereiche“ der Unternehmen indessen spielen ein Gesellschaftsspiel, das Marktwirtschaft heißt.

Neuerdings erscheinen „Führungskräfte“ ab Meister aufwärts, laut Bekleidungsordnung stets im formschönen Anzug, mindestens aber in nett farblich abgestimmter Kombination plus Binder, im Betrieb. Das jahrelang nicht nur unter den mehr als 8.000 Einheitssozialisten im Unternehmen gebräuchliche kollegiale „Du“ ist inzwischen weisungsgemäß dem distanziert- höflichen „Sie, Herr/Frau“ gewichen. In den alten Bundesländern sei das generell so üblich, heißt es im Buna-Werk. Wie könnte man da?

Am härtesten trifft die Erfindung neuer „Unternehmensphilosophien“ in den bisher nach marxistischer und leninistischer Philosophie regierten Betrieben die Meister, zu seligen Kombinatszeiten „Organisatoren der Produktion“ und vor allem als Prügelknaben für Planschulden, Personalnot und überzogene Pausen sehr beliebt. Die nämlich dürfen seit kurzem nicht mehr mit ihren Arbeitern zusammen duschen. Eine Maßnahme, von der sich die Unternehmensleitung angeblich eine spürbare Hebung der Autorität ihrer Meisterkaste verspricht... [der feudalismus ist wider mega-in. d. k.in].

Die Zukunft aber sieht insgesamt dennoch düster aus. Orte wie Schkopau oder Leuna, Anfang des Jahrhunderts als reine Werkssiedlungen des Buna- und der Leuna-Werke gegründet, stehen vor bitteren Zeiten. Daß die Arbeitslosigkeit in beiden Orten momentan noch weit unter dem Durchschnitt im Süden Sachsen-Anhalts liegt, tröstet Schkopaus Bürgermeister Rudolf Werner sowenig wie seinen Leunaer Amtskollegen Wiese. „Das ganz große Sterben steht uns doch erst noch bevor“, meint der. Was dann werden soll? Beschäftigungsgesellschaft, ABM vielleicht, aber „Zauberworte sind das doch auch nicht“. So richtig hoffnungsvoll schaut nur Thomas Schröder, Vorsitzender der kleinsten Industriegemeinde Korbetha in die Zukunft: „Wenn Buna mal aus dem gröbsten raus ist, dann klingelt für uns die Kasse“, denkt der früher per SED-Parteibeschluß in den Ort kommandierte Bürgermeister, der nach der Wende weitergemacht hat — parteilos jetzt —, „weil sich doch für die paar Mark kein anderer auf so einen Posten setzt“. Buna steht zum Großteil auf Korbethaer Gemeindeboden — „da würde ich auch fröhlich in die Zukunft gucken“, ist Schkopaus Gemeindechef Werner neidisch.

Er wird es am schwersten haben. 90 Prozent aller Gebäude im Ort gehören „dem Werk“, bis auf den Friseur, die Postfrau und den Doktor arbeiten auch so ziemlich alle Schkopauer dort. „In den höheren Positionen vor allem“, erläutert Werner, Christdemokrat und Realist, „und wenn im Werk mal Schluß wäre, dann können wir hier auch zumachen.“ Aber wenn die gegenwärtig am häufigsten genannten Zahlen stimmen, werden ja am Jahresende immerhin noch 8.000 Buna-Werker Lohn und Brot haben. Bis auf weiteres und wenn alles gut geht. Wenn nicht, werden die Zahlen weiter klettern. Schon denkt das Merseburger Arbeitsamt, daß die Mehrheit der „Freigesetzten“ aufgefangen werden muß. Die ehemalige Stasi-Zentrale, in der der alt-neue Amtschef Krüger und seine Mitarbeiter seit der Wende den Niedergang der Region verwalten, ist heute schon zu eng geworden. Auch die geräumige Außenstelle, erst jüngst eingerichtet in einer ehemaligen NVA-Kaserne, platzt aus allen Nähten. Für die Zukunft muß ein neues Domizil her, wenn die Bürokratie den bevorstehenden Ansturm bewältigen will.

Die Erwartungen aber, die mancher zur Zeit insgeheim in die nächste Entlassungswelle setzt, sie werden enttäuscht werden. Keine neuen Massenproteste, keine neuen Unruhen, keine Betriebsbesetzungen im mitteldeutschen Revier. Nach genauerer Betrachtung nämlich werden aus den Massenentlassungen ein Haufen Einzelschicksale. Ein Teil der „Betroffenen“ geht für ein, zwei Jahre in AB-Maßnahmen. Ein anderer Teil verschwindet in Weiterbildungs- und Qualifizierungslehrgängen. Andere arbeiten weiter mehr oder weniger kurz. Die wenigsten nur landen direkt auf der Straße.

Das Elend wird dadurch natürlich weder kleiner noch erträglicher. Es wird nur unauffällig. Harmlos. Und alltäglich.