: Oberarmschluß für Europa
■ Der „Weserkurier“ stiftete eine „Europaar“-Skulptur / Schönes Beispiel des Lilienthaler Realismus
Darf man wenigstens hin und wieder einem geschenkten Gaul ins Maul schauen? Eine radikale Minderheit in Lilienthal jubelt nicht, sondern stänkert über ein Geschenk, das Herr Ordemann, Weserkurier-Vorsteher, der Gemeinde gemacht hat: eine Bronzeplastik der Lilienthaler Bildhauerin Ingeborg Ahner-Siese. Vor dem Rathaus in der Klosterstraße, wo laut Sanierungsförderungsprogramm des Landes eine „kulturelle Mitte“ des Pendlerortes entstehen soll, prunkt seit Mitte Juni eine Sandsteinbank, auf der zwei bronzene Figuren Platz genommen haben. Eine hält mit steif abgewinkeltem Arm, als sei es eine Feuerqualle, ein Buch in den Ausmaßen eines Autoatlas; die aufrechte Haltung wirkt orthopädisch sinnvoll, das Gesicht drückt Indifferenz aus. Die zweite Person macht sich bis auf Oberarmkontakt an die erste heran und scheint sich für das Buch zu interessieren.
Inmitten des roten Klinkerambiente von Rathaus und Platz hat die Gruppe etwas Rührendes, ja Schutzwürdiges, und in Verbindung mit der unbedingten Lesbarkeit der Skulptur kam es vermutlich zu der grassierenden Akzeptanz, die die lokale Weserkurier- Beilage „Wümme-Zeitung“ wochenlang nicht müde wurde zu behaupten. Beweis: Zum Wettbewerb für einen Namen des Kunstwerks trudelten 241 Vorschläge ein. 1. Preis für Herrn Udo von Neindorff (sic!): 3 Tage Kopenhagen (Europa). Die Idee: „Europaar“! Denn Ordemann sagte aus Anlaß der Enthüllung: „Wir wollten etwas schenken, das mit Europa und seiner zukünftigen Bedeutung zu tun hat.“
Und die radikale Lilienthaler Minderheit? Hans Jürgen Sieker, Bürger dortselbst, entdeckte ausgerechnet vor dem Lilienthaler Rathaus die Nische, wo der sozialistische Realismus, abgeschnitten vom real existierenden Sozialismus, überwintert. Beispiellos sarkastisch wünscht Sieker sich für die Gruppe den Namen „Glückliche, wissensdurstige Jugend“. Was Sieker unterschlägt, ist, daß analoge Errungenschaften des Arbeiter- und Bauernstaates mindestens 2 Meter Schulter
hierhin bitte
die Skulpturen
(Mann & Frau, die
einander anschauen)
Zum Vergleich: Klaus Schwabe, Leipzig, „Junges Paar" 1968, Bronze. Foto aus: „Architektur und Bildende Kunst“, Ausst. zum 20. Jahrestag der DDR
höhe haben (Europaar: 1,12 m). „Jugend“-Relevanz ist übrigens unstrittig. Frau Ahner-Siese: „Die Plastik soll von der Jugend angenommen werden“. Ordemann sekundiert: Zu wünschen ist ein vielhändiges Blankscheuern wie bei den Sögeschweinen. „Kunst zum Anfassen.“
Woher aber wissen alle, daß es sich um ein heterosexuelles Paar handelt? Geneigte LeserIn, gehen Sie ganz nah ran, lassen Sie kein Detail des Europaars aus! Weder
sekundäre noch primäre Geschlechtsmerkmale sind an den idealischen Bronzekörpern auszumachen. Und doch kann das kulturelle Lilenthal incl. Heimatzeitung als Ursache für einen innigen Oberarmschluß nur bisexuelle Affinität denken.
Wenn es eine Wahrheit gibt, dann die der Künstlerin: „Die Plastik soll das Aufeinanderzugehen der Geschlechter dokumentieren.“ Auch und gerade in Lilienthal! Burkhard Straßmann
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen