CHEMIEFREIE ZONE

■ Die Gemeinde Hindelang versucht, mit dem umweltverträglichen Tourismus Ernst zu machen

Die Gemeinde Hindelang versucht, mit dem umweltverträglichen Tourismus Ernst zu machen

VONRÜDIGERKIND

Der riesige Parkplatz in Oberjoch liegt verlassen im Morgennebel. Eine öde Asphaltwüste inmitten blühender Bergwiesen. Nur vereinzelt brechen Wanderer von hier zu einer Tour in die Oberallgäuer Berge auf. Der einzige Bus, der zu dieser frühen Stunde hier parkt, kommt aus Magdeburg. Die Alpen sind eines der beliebtesten Reiseziele der Neubürger aus dem Osten.

Oberjoch gehört mit den Gemeinden Unterjoch, Hinterstein, Vorderhindelang und Bad Oberdorf zum Urlaubsgebiet Hindelang, dessen Fläche — einmalig in der Bundesrepublik — zu 85 Prozent als Landschafts- und Naturschutzgebiet ausgewiesen ist. Die krummen Buckelwiesen, die in früheren Zeiten angelegten Terrassen, auf denen Bergbauern Flachs und Korn geerntet hatten, und die ausgedehnten Moore sind eines der letzten großflächigen, bäuerlich genutzten Biotope in Deutschland. Auf einer Wanderung durch die ungedüngten und deshalb herrlich blühenden Bergwiesen kann man von Arnika, Bergflockenblume über verschiedene Enzian- und Orchideenarten noch einen Großteil der alpinen Flora bestaunen. Doch dies sind nur Reste eines früheren kulturlandschaftlichen Reichtums, den Generationen Allgäuer Bergbauern in zäher Arbeit geschaffen haben. Die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe ging seit 1960 von 216 Neben- und Zuerwerbsbetrieben auf ganze 73 im Jahr 1988 zurück. Reine Vollerwerbsbetriebe gibt es sowieso schon lange nicht mehr. Die Vermietung von Fremdenzimmern, Arbeiten in der Alp- und Waldwirtschaft und an Skiliften sind für alle Bauern notwendig.

Ernst Wirthensohn vom „Bund Naturschutz Bayern“, der Mitte der achtziger Jahre das unter dem Namen „Öko-Modell Hindelang“ bekanntgewordene Programm zur Existenzsicherung naturnah wirtschaftender Bauern erarbeitet hat, warnte: „Wenn für die Zukunft nichts Entscheidendes passiert, werden die landwirtschaftlichen Betriebe weiterhin drastisch zurückgehen. Die verbleibenden Bauernhöfe konzentrieren sich dann auf die guten, ebenen Flächen. Diese werden weiterhin maschinengerecht ,bereinigt‘ und — weil arbeitswirtschaftlich sinnvoll — mit Gülle intensiviert.“ Auf den trockenen Hängen würde die Wiesenwirtschaft verschwinden und durch Weidewirtschaft ersetzt. Alle ökologisch wertvollen buckligen, steilen und feuchten Wiesen würden brachfallen oder systematisch mit Fichten aufgeforstet. Wirthensohns Resümee: „Mit dem Verschwinden der kleinen Bergbauern kehrt die Monotonie der modernen Ökonomie ein. Die wirtschaftliche Basis der Fremdenverkehrsgemeinde Hindelang — Kulturlandschaft und Bergbauern — ist gefährdet.“

Das Ziel des Öko-Modells, den letzten verbliebenen Bauern mit Fördergeldern den Verzicht auf die chemische Keule zu erleichtern, ist nach anfänglicher Skepsis mittlerweile gut angenommen worden. Allen voran die Hintersteiner Wald- und Weidegenossenschaft, deren Mitglieder sich vertraglich verpflichteten, auf Kunstdünger zu verzichten, und die das Hintersteiner Tal so zur chemiefreien Zone machten.

Ernst Wirthensohns Warnruf wurde auch im Rathaus gehört. Hindelangs Bürgermeister Roman Haug nahm 1986 als einziger Allgäuer Bürgermeister das Angebot des Bund Naturschutz wahr, an dem Pilotprojekt teilzunehmen. Er wußte, daß eine intakte Umwelt das größte Kapital eines Gebiets ist, das zu 90 Prozent vom Fremdenverkehr lebt. Die Hindelanger Kurverwaltung hat es sich zum Ziel gesetzt, „Naturschutz, Heimatbewahrung und Tourismus zu koordinieren. Unsere Gäste sollen Landschaft, Natur und Bevölkerung mit all ihren Reizen, Eigenarten und Problemen kennenlernen.“ Und seitdem finden nicht nur die konventionellen alpenländischen Heimatabende im bombastischen Hindelanger Kurhaus statt, sondern auch Exkursionen, die dem Fremden die Besonderheiten dieser einzigartigen Kulturlandschaft näherbringen sollen: botanische Wanderungen unter sachkundiger Führung werden ebenso angeboten wie die Besichtigung einer Käserei oder eine Einführung in die Mähpraxis mit der Sense durch einem einheimischen Bauern.

Werner Probst, der Wirt der „Krone“ in Unterjoch, ist einer der Gastronomen im Gebiet, die sich aktiv um ein naturnahes Tourismus- Konzept bemühen. Und das nicht erst seit dem Medienrummel um das „Öko-Modell“. „Da hast deinen Gästestamm zehn Jahre lang aufgebaut, jetzt kannst nicht alles auf einmal umschmeißen. Ich muß halt mit dem jetzigen Geschäft die Zukunft finanzieren.“ Und er weiß, daß nur ein rücksichtsvoller Umgang mit der Natur langfristig das (Tourismus-)Geschäft sichern kann. Ihn ärgert es, wenn man ihn, der so betriebswirtschaftliches und ökologisches Denken verbinden will, in den Medien gleich als Naturapostel tituliert, nur weil er seit Jahren konsequente Mülltrennung praktiziert und die gesamte Kühlanlage seines Betriebes auf den neuesten Stand der Technik gebracht und an eine Wärmerückgewinnungsanlage angeschlossen hat, mit der er das Brauchwasser aufheizt.

Eine Nahtstelle der Bereiche Tourismus und Landwirtschaft ist das Angebot heimischer, biologisch erzeugter Nahrungsmittel auf den Speisekarten der Gastronomie. Doch dazu braucht es engagierte Wirte, die bereit sind, die höheren Preise für Bio-Fleisch zu bezahlen. Chemie-Kalb vom Großhändler ist natürlich billiger — und schmeckt auch entsprechend. Die Direktvermarktung der Milch- und Fleischprodukte, die von den Bauern des Hindelanger Gebietes in hevorragender Qualität angeboten werden, ist auch ein Bestandteil des Öko-Modells zur bäuerlichen Existenzsicherung. „Der vollständige Einstieg in die anerkannt biologische Lebensmittelerzeugung kann nirgends so schnell vollzogen werden wie in Hindelang“, schreibt Ernst Wirthensohn in einem Zwischenbericht. Wenn Werner Probst den Allgäuer Bergkäse oder den Grüntenzeller rühmt, den er direkt von der Sennerei in Wertach bezieht, kommt er auf die Sünden zu sprechen, die in den sechziger und siebziger Jahren begangen wurden. Damals mußten die kleinen Sennereien wegen ihrer „unwirtschaftlichen“ Produktionsweise schließen — die Milch wurde zunehmend bei der nächsten Großmolkerei abgeliefert. Die alten Butterfässer und Käsewaidlinge wanderten ins Heimatmuseum — oder ins Ferienhaus eines Gelsenkirchener Rechtsanwalts. Seit einigen Jahren hat, nicht zuletzt angeregt durch die Diskussionen um das „Öko-Modell“, eine Rückbesinnung eingesetzt. Die Fehlentwicklungen der Vergangenheit sollen wieder soweit als möglich rückgängig gemacht werden. Mehr und mehr wenden sich die verbliebenen Sennereien wieder handwerklicher Produktionsweise zu. Und schon überlegt man in Hindelang, wo es keine eigene Sennerei mehr gibt, ob nicht wieder eine neue aufgebaut werden soll.

Noch sind touristische Betriebe wie die „Krone“ oder der „Grüne Hut“ in Hinterstein, die durch das Angebot spezieller Umwelt- und Natur-Erlebnis-Wochen mit dem umweltverträglichen Tourismus Ernst machen, die Ausnahme. Denn die Kundschaft, die weiterhin ihr hochgerüstetes Freizeit-Equipement im Urlaub betätigen will, muß auch bedient werden. So wird die Hindelanger Kurverwaltung Mühe haben, aus ihren „sanften“ Aktivitäten mehr zu machen als ein bloßes Nischenprogramm für Naturfreunde.

„Zunehmender Massentourismus, weiterer Ausbau der Liftanlagen und Parkplätze konterkarieren eine Entwicklung Oberjochs zur größten Bergblumenlandschaft Deutschlands“, mahnte Ernst Wirthensohn. Aber man ist dabei, Konsequenzen zu ziehen: Mittlerweile diskutiert der Gemeinderat über ein Verbot des Mountainbiking abseits befestigter Wege, die Jägerschaft hat ein Verbot der Ballonfahrten beantragt, und die Beschneidungsanlage hat auch nicht nur Freunde.

Diese Fragen berühren die Bustouristen aus Magdeburg wenig. Sie wollen die Allgäuer Bergwelt, wie sie im Bilderbuch steht. Am Abend zuvor haben sie im Hinterlanger Kurhaus den großen rheinischen Sängerabend mit dem Leverkusener Damenchor „Bergisches Echo“ besucht — sicherlich ein Höhepunkt alpenländischer Brauchtumspflege. Begeistert von diesem Deutschland, wie es singt und lacht, stellen sie sich vor ihrem Bus zum Gruppenfoto auf, bevor es an die Heimreise geht. Ihr Fahrer hat auch schon voll auf die Kleiderordnung der Berge umgestellt: er trägt eine zünftige Krachlederne. Und wer weiß, vielleicht gibt es beim nächsten Mal schon einen sächsischen Sängerabend im Kurhaus.