Überparteilich, unbefangen?

■ Siemens kämpft gegen den Durchbruch des "kritischen Sachverstands" im Atomstreit

Überparteilich, unbefangen? Siemens kämpft gegen den Durchbruch des „kritischen Sachverstands“ im Atomstreit

Der Siemens-Konzern mag sich von den Reaktorexperten des Öko-Instituts nicht in die Karten schauen lassen. Das kann man verstehen. Die Darmstädter Atomkritiker sind dafür bekannt, daß sie sehr genau hinsehen, und sie haben sich auf diese Weise eine öffentliche Reputation und Anerkennung erarbeitet, von der die Atomwirtschaft bis auf weiteres nur träumen kann. Der nun hoffentlich bevorstehende Clinch über die Rolle kritischer Wissenschaftler in dieser Jahrhundert-Auseinandersetzung ist überfällig. Daß die Initiatoren dabei glücklich werden, ist kaum anzunehmen. Die Angelegenheit, erdacht in der Siemens-Rechtsabteilung, könnte durchaus nach hinten losgehen.

Die Rechtsgelehrten des Konzerns monieren, daß die Öko-Wissenschaftler in der Vergangenheit für Kläger und Einwender gegen Atomanlagen überall im Lande in die Bütt stiegen. Damit mangele es ihnen an der nötigen „Unparteilichkeit“ als Gutachter. Mag ja sein. Bisher begutachtete der TÜV-Bayern routinemäßig Siemens- und andere Atomanlagen. Daß er dabei jemals zu anderen Ergebnissen kam, als die Konzern-Experten sie wünschten, ist nicht bekannt. Was wiederum kaum verwundert. In der Vorstandsetage des TÜV sitzen schließlich Vertreter jener Unternehmen, über deren Anlagen der TÜV sein wachendes Auge hält. Ist der TÜV unparteilich? Wohl kaum. Das Problem ist ein allgemeines. Es gibt in der Auseinandersetzung um Nuklearanlagen keinen „neutralen“ Sachverstand. Die scientific community in diesem hochspezialisierten Technologiesektor ist überschaubar. Vor allem aber: Die Experten sind, so oder so, ohne Ausnahme „belastet“ — oder sie sind keine Experten.

Das alles wissen natürlich die Herren der Atomwirtschaft. Aber sie wissen auch, daß früher oder später eine Frage zur Entscheidung steht, die die Zukunftschancen der nuklearen Stromerzeugung in diesem Land maßgeblich beeinflussen wird. Die Frage lautet: Wird die technische Sicherheit der Industrieanlagen mit dem höchsten Gefährdungspotential wie bisher ausschließlich vom „befürwortenden Sachverstand“ überwacht? Einige rot oder rot-grün regierte Länder haben — wie jetzt für Hessen Umweltminister Joschka Fischer — diese eherne Regel inzwischen durchbrochen und sogenannte kritische Wissenschaftler als Gutachter bestellt. Die Atomwirtschaft befürchtet den Dammbruch. Dies umso mehr, als auch höchste Gerichte inzwischen die Beteiligung der „ganzen Breite“ des wissenschaftlichen Sachverstands einfordern.

Nicht zufällig wendet sich der Siemens-Konzern nun hilfesuchend an Bundesreaktorminister Töpfer sowie an dessen Beratungsgremien Reaktorsicherheitskommission und Gesellschaft für Reaktorsicherheit. Hier nämlich ist die Atomwelt der sechziger und frühen siebziger Jahre noch in Ordnung. Hier sitzen Befangenheit und Parteilichkeit bei jeder Sitzung mit am Tisch. Angesichts einer zu achtzig Prozent atomkritischen Bevölkerung leistet sich der Bonner Atomaufseher immer noch Beratungsgremien, die zu 100 Prozent mit Atombefürwortern besetzt sind. Dieser Skandal gehört auf die Tagesordnung, nicht die Gutachtertätigkeit des Öko-Instituts. Gerd Rosenkranz