„Blühend Gefild, durch des Menschen fleißige Hand“

Der SPD-Vorsitzende Engholm besucht Sachsen-Anhalt/ „Sozialdemokratie ist nur interessant, wenn sie sich durch Differenzen auszeichnet“  ■ Aus Halle Gerd Nowakowski

Einst ein „ödes Land“, so hatte der Kinderchor wenig vorher artig gesungen, jetzt ein „blühend Gefild durch des Menschen fleißige Hand“. Wieviel Fleiß nötig sein wird, daran mag der SPD-Vorsitzende Björn Engholm gedacht haben, dort drinnen in der finsteren Höhle, dieser Karikatur einer frühkapitalistischen Fabrik. Dunkel ist es und dreckig in der langgestreckten Halle der Eisengießerei von Tangerhütte. Rot und gelb wabern die Nebel, die aus den Ritzen quillen, wie der Schein des kochenden Eisens in den Tiegeln einer Fabrik, die sich seit der Errichtung 1908 scheinbar nicht mehr verändert hat. Dampf wallt aus den Rohrleitungen, Staub schwebt zwischen den Eisenkonstruktionen, über denen die Krane quietschend gleiten.

„Ich drücke Ihnen die Daumen“, sagt Engholm am Ende des kurzen Gesprächs zu einem Arbeiter, der dort noch mit 300 anderen in dieser Vorhölle arbeitet. 1.200 arbeiteten vor der Wende noch in der Eisenhütte, dem einzigen Betrieb der Stadt mit 8.000 Einwohnern. Viel kann der SPD-Vorsitzende nicht versprechen, tut es auch nicht. Er steht neben dem Arbeiter, den Kopf in seiner typischen Zuhörerhaltung geneigt, die Augen leicht zusammengekniffen. Verhindern, daß er wie fehlplaziert wirkt, kann er nicht: Braun gebrannt, mit seiner noblen Kleidung, dem weißen Hemd, dem grünich-olivfarbenen Seidenblouson und der schwarzen Seidenhose. Da meint man zu spüren, wie schwer es sein wird, eine Partei zusammenzuhalten, die im Westen die neuen Mittelschichten gewinnen will und im Osten mit den traditionellen Forderungen der Arbeiterklasse kämpfen muß. Vor der Eisenhütte hatte ihn die schmale, junge SPD-Vorsitzende von Tangerhütte begrüßt. Lehrerin ist sie und seit der Gründung im Frühjahr 90 dabei. Bei den Kommunalwahlen hatte die SPD hier gewonnen, als einzige Stadt in der Altmark. 35 SPD-Mitglieder gibt es — nahezu entschuldigend fügt die blonde Frau hinzu: fast alle seien aber aktiv. Der gesamte Unterbezirk hat knapp 750 Mitglieder, und in den anderen Unterbezirken, in Magdeburg und im Halle/Saale-Kreis sieht es nicht anders aus. Viel Aufbauarbeit ist nötig.

Zuhören will er, Probleme kennenlernen, sagt Engholm über seine erste Reise nach Sachsen-Anhalt, die sich zwischen Natur und Arbeiterklasse, zwischen dem Naturschutzpark Drömling, der Entsorgungskloake Elbe und der Chemiealtlast Bunawerke bewegt. Auch Mut will er machen. Gemeinsam werde man es schaffen — oder gemeinsam verlieren, sagt er und daß dazu auch notwendig sei, daß die im Westen zurücksteckten. Und in einigen Jahren, wenn es in Ostdeutschland die modernsten Betriebe gebe, dann werde das arme Schleswig-Holstein anklopfen und sagen: Jetzt helft ihr uns mal. Aber selber machen sei nötig, nicht nur immer Geld fordern, das er auch nicht habe, grantelt Engholm auch mal. Die mehreren hundert Menschen, die sich zur Mittagszeit in der Bismarckstraße in Tangerhütte — ehemals Thälmann-Straße — versammelt haben, haben nicht mehr viele Erwartungen. Arbeitslos sind viele, wie der junge Mann im Unterhemd und bunten Bermudas. „Auf jeden Fall macht er keine Versprechungen“, stellt er fest, das sei doch schon sehr viel. Derweil kämpft der SPD-Vorsitzende mit der ungenügenden Technik des SPD-Unterbezirks. Die Lautsprecheranlage pfeift, ist überfordert; Gleiches gilt manchmal für die Organisation.

Man merkt, wie Engholm sich tapfer bemüht. Zuhören kann er, wenn er umringt ist von Menschen, die ihm von Arbeitslosigkeit, Rentenproblemen oder auch rechstradikaler Bedrohung erzählen, ob in Halle oder im ehemaligen Pionierpalast in Magdeburg. Er kommt an — besonders bei den Frauen — mit dieser Haltung, die anders ist und gerade deshalb glaubwürdig. Volkstümlich jovial zu sein, das ist nicht die Sache des 53jährigen gelernten Schriftsetzers. Manche Kollegen verrutschen, Unsicherheit ist ebenso zu spüren wie die stete Selbstkontrolle. Als er sich beim SPD-Fest in Kunrau entschließt, beim Singen mitzuklatschen, ist gerade das Lied zu Ende. Erschrocken fallen die Hände auseinander, suchen nach einem Halt und greifen ans Kinn.

Engholms leise Art, die mehr an einen Moderator als einen Macher erinnert, steht deutlich im Gegensatz zur Zuchtmeisterrolle seines Amtsvorgängers Hans-Jochen Vogel oder des ebenso unverhüllt autoritären Oscar Lafontaine. Daß jene, die über Vogels Klarsichthüllenführungsstil spötteln, letztlich dennoch ganz traditionelle Herrschaftsmuster wünschen, macht es für Engholm nicht einfacher. Dabei ist der Eindruck falsch. Wie er sich präsentiert, täuscht lediglich darüber hinweg, daß er mit den in 125 Jahren Parteiarbeit erworbenen Herrschaftstechniken auch umzugehen weiß, mag der flapsige Umgangston mit seinem Referenten auch anderes suggerieren. Zuweilen nur scheint es, als habe Engholm noch Schwierigkeiten mit seiner neuen Rolle als Vorsitzender, in der jede Äußerung zur Nachricht wird. Das ist zu spüren in Bonn, wenn er die Journalisten einlädt, Diskussionsangebote macht, Gedanken ins Unreine formulieren will und nicht auf Resonanz, sondern nur auf gespitze Bleistifte trifft.

„Sozialdemokratie ist nur interessant, wenn sie sich durch Differenzen auszeichnet, sonst ist sie todlangweilig“, sagt er. Aber wenn er im SPD-Vorstand diskutieren möchte, dann zählten manche auf, was anno dazumal die Partei zu diesem Punkt beschlossen habe. Er meint seinen Amtsvorgänger Vogel, ohne den Namen zu nennen. „Wir sehen doch gar nicht mehr die Wirklichkeit, sondern reagieren nur noch auf eingefahrene Wahrnehmensmuster“, sorgt er sich in Wolfsburg, am Vorabend der Reise. Er spricht von der Ästhetik, die zur Anästesie geworden sei, zur Betäubung der Wahrnehmung.

„Nicht hängen lassen“, dürfe man die Leute, „Brücken schlagen“, „Übergänge“ organisieren, die Struktur nicht völlig kaputtgehen lassen, verkündet Engholm immer wieder. In Buna, wo einst 22.000 Menschen arbeiteten, und heute noch 10.000 beschäftigt sind — laut Treuhand immer noch 4.000 zuviel. Eineinhalb Stunden redet Engholm mit Direktion und Betriebsrat hinter verschlossenen Türen, dann geht es weiter nach Wittenberg zu einem anderen SPD-Fest und anderen Genossen, die dringend der Ermunterung bedürfen. Draußen ist es heiß, der Journalistentross hetzt immer hinterher. Fast möchte man Engholm wünschen, was er am Abend zuvor im Gespräch aus einem Buch zitierte. „...setzte mich auf ein Fensterbrett, verwandelte mich in einen Vogel und flog davon. Glück.“