Sexuelle Folter ohne Urteil

■ Richter wollten Angeklagte nicht hören: 2. Hauptverhandlung nötig

Die vier Plädoyers waren gehalten, die Schlußworte gesprochen, einzig das Urteil gegen Joachim R. und Thomas K. stand noch aus: Doch die siebte Strafkammer am Bremer Landgericht kam Ende Juni zu keinem Urteil in dem mehrtägigen Prozeß um Vergewaltigung und sexuelle Folter der Esther M.

Warum sie sich bei diesem sadistischen Verbrechen gegen die Weiblichkeit zu keinem Urteilsspruch im Stande sahen, muß das sogenannte „Beratungsgeheimnis“ der drei Berufsrichter und der zwei Schöffen bleiben. In Gerichtskreisen wird vermutet, daß die Richter es inzwischen bereuen, die zentrale Zeugin, das Opfer Esther M., von ihrer Aussage im Prozeß abgehalten zu haben. Denn ohne die Schilderung von Ester M. mußten sich die Richter fast ausschließlich auf die Angaben des Täters Joachim R. stützen. Der ebenfalls geständige Mitangeklagte Thomas K. hatte sich auf einen „Filmriß“ berufen.

Die Richter sollten eigentlich in der Hauptverhandlung die schwierige Frage entscheiden, wann im Tatverlauf die sexuelle „Handlung“ aufgehört und wann die sexuelle „Miß-Handlung“ begonnen hatte. Wann Esther M. „aus Liebe“ die „Wünsche“ der beiden Männer erfüllt hatte und in welchem Moment die Grenze zu „Vergewaltigung, sexueller Nötigung und Körperverletzung“ (Anlageschrift) überschritten war.

Folge der versäumten Vernehmung und des nicht gesprochenen Urteils: Die grausamen Taten kommen im Spätsommer in einer zweiten Hauptverhandlung wieder vor Gericht. Mit dem Unterschied, daß diesmal voraussichtlich auch die „geschädigte Zeugin“ Esther M. in den ZeugInnenstand treten darf.

Esther M., die in einer betreuten Wohngemeinschaft lebt, hatte vor dem Prozeß keine protokollierte Aussage gemacht. Staatsanwältin Claudia Traub: „Das war nicht möglich. Sie ist labil und ganz leicht zu beeinflussen. Sie glaubt an übersinnliche Mächte.“ Vor dem Prozeß jedoch hatte Esther M. sich fest zu einer Aussage entschlossen. Weshalb sich Nebenklage-Vertreterin und Staatsanwältin dafür stark machten, Esther M. in „ihrem“ Prozeß auch aussagen zu lassen. Das Gericht solle Esther M.s dringenden Wunsch nach gerichtlichem Gehör respektieren. Claudia Traub: „Wenn nicht jetzt, wann dann?“

Die beiden Verteidiger Gerhard Baisch und Erich Joester zeigten sich an der ZeugInnenschaft von Esther M. jedoch nicht interessiert. Anwalt Erich Joester warnte davor, „alles mitzumachen, was Mandanten wollen“. Joester: „Das Gericht ist nicht zum Therapieren da.“ Der Vorsitzende Richter Werner Oetken nahm das Stichwort des Verteidigers Erich Joester dankbar auf und verwahrte sich dagegen, das Gericht zu einer „Therapie-Anstalt“ für die psychisch labile Esther M. zu machen. Neben der Labilität von Esther M. führte Richter Oetken die Fürsorgepflicht des Gerichts gegenüber Opfern von Vergewaltigungen an, denen doch möglichst eine Aussage zu ersparen sei.

Die Nebenklagevertreterin, Rechtsanwältin Sabine Scheding, knüpfte an die Aussage ihrer Mandantin Esther M. die Bedingung, beide angeklagten Männer während Esther M.s ZeugInnenschaft von der Verhandlung auszuschließen.

Denn Esther M. habe an jenem Tag im Kornfeld Todesängste ausgestanden, es sei zu befürchten, daß sie angesichts der Angeklagten erneut in große Angstzustände gerate. Außerdem sei zu befürchten, daß Esther M. in Anwesenheit der beiden Angeklagten nicht in der Lage sein werde, die Wahrheit zu sagen. Sabine Scheding, die Nebenklagevertreterin, gab weiter zu bedenken: „Esther M. glaubt, daß der Angeklagte Joachim R. telepathische Fähigkeiten hat und nicht will, daß sie aussagt. Sie glaubt, daß alle, die ihr von einer Aussage abraten, von ihm beeinflußt sind.“

An dieser Stelle (es war der Beginn des zweiten Verhandlungstags) schaltete sich der beisitzende Richter Klaus-Ferdinand Ziemann zum ersten Mal aktiv in den Prozeß ein. Er war bis dahin nur dadurch aufgefallen, daß ihm ständig die müden Augenlider herunterklappten. Richter Klaus- Ferdinand Ziemann versetzte sich mit folgendem Argument in die Psyche einer vergewaltigten und gefolterten Frau: Eine Bedrohungssituation im Gerichtssaal sei für eine geschädigte Zeugin doch nur dann gegeben, wenn die angeklagten Männer die Tat bestritten, aber doch keinesfalls, wenn die Täter geständig seien.

Das Gericht zog sich zu einer Beratung zurück. Ergebnis: Die Richter beschlossen, mit der „Geschädigten“ die Probe aufs Exempel zu machen. Während die angeklagten Männer im Saal sitzen bleiben, solle die Zeugin doch selbst Auskunft darüber geben, ob sie in deren Beisein angstfrei reden könne.

Unter diesen Versuchsbedingungen erklärten Staatsanwältin und Nebenklagevertreterin ihren Verzicht auf die Zeugin. Das Gericht hatte den Schwarzen Peter für den Verzicht auf die Hauptzeugin den beiden Frauen zugeschoben.

In ihrem Plädoyer am vierten Prozeßtag ging Staatsanwältin Traub scharf mit den Richtern ins Gericht: „Das Gericht wollte Frau M. nicht hören und hat dieses Nicht-Hören mit Fürsorge begründet. Es sollte ausprobiert werden, ob Esther M. standhält.“ Die Staatsanwältin weiter: „Ich habe mich dabei mehr als genötigt gefühlt.“

Die Folge des Nicht-Hörens für Esther M.: Die Frau, die den Prozeß durch ihre polizeiliche Anzeige erst ins Rollen gebracht habe, sei nun völlig verwirrt darüber, daß sie vom Gericht nicht ernst genommen werde. Claudia Traub: „Daß man ihr nicht zugehört hat, weil man sie für bekloppt hält“.

Verteidiger Erich Joester kam in seinem Plädoyer ebenfalls auf den Prozeßverlauf zu sprechen: „Ich halte das, was gelaufen ist, in keinem Fall für glücklich.“ Joester: „Alle können in einem solchen Verfahren nur verlieren. Auch die Anwälte“.

Barbara Debus