Erleichterung

■ betr.: "Zur Vernunft genötigt", taz vom 6.7.91

betr.: „Zur Vernunft genötigt“, Gastkommentar von Micha

Brumlik, taz vom 6.7.91

Da sitze ich doch an einem sonnigen Samstagmorgen ahnungslos beim Frühstück, schlage die Seite 10 der taz auf, und mein Blick fällt auf die Überschrift: „Zur Vernunft genötigt“. Während ich noch darüber nachsinne, was damit denn wohl gemeint sein könnte, bleibt mir beim Lesen der zweiten Überschrift fast mein Brötchen im Hals stecken. „Eine gewaltfrei agierende PLO brächte Israels Rechte unter Druck.“ Endlich jemand, der weiß, wie man/ frau die israelische Rechte unter Druck bringt. Daß da noch niemand drauf gekommen ist, wo es doch so nahe liegt. Die PalästinenserInnen sind aber auch selbst schuld. Warum müssen die auch immer mit Steinen werfen?

Ich lese weiter: „Während die Regierung Shamir aus freien Stücken Amok läuft (...)“. Ich zögere, diese Erkenntnis ist noch zu neu für mich. Ich frage mich, ob die Regierung Shamir vielleicht früher unfreiwillig Amok gelaufen ist und, wenn ja, von wem sie dazu genötigt wurde und warum sie nicht einfach zur Vernunft genötigt wurde und noch mindestens 242 andere Fragen.

Etwas später finde ich den roten Faden wieder. Micha Brumlik erklärt der interessierten LeserIn, daß „Syrien (...) im Schatten des Golfkrieges den nominell souveränen Libanon seiner Hegemonie unterworfen“ hat, um uns im Anschlußsatz zu erläutern, daß „als Folge dieser Arrondisierung (...) jetzt die libanesische Regierung ihre Souveränität auf den Süden des Libanon (...)“ ausdehnt. Aha! Die unter syrischer Hegemonie (angebrachter wäre wohl das Wort Besatzung) stehende libanesische Regierung dehnt also ihre Souveränität auf den Süden des Landes aus. Ich staune, bin kurz davor, einen Leserbrief an die taz zu schreiben, und lese dennoch weiter. Dann kommt, was kommen mußte, die „einmalige Chance“, die sich den PalästinenserInnen aus ihrer „erzwungenen Machtlosigkeit“ bietet. (Kleiner Tip an dich, Micha: Historische Chance kommt viel besser.) Die PalästinenserInnen sollten eine „flexible Verhandlungsbereitschaft mit Mitteln eines wirklich zivilen — also auch auf Steinwürfe verzichtenden Ungehorsams“ verbinden. Und weiter: „Wenn heute eine strikt gewaltfreie Bürgerrechtsbewegung (ja, das war schon toll, was die in Osteuropa gemacht haben, das klappt bestimmt überall) entstünde — die Verlegenheit des israelischen Rechtsradikalismus wäre nicht auszumalen.“ Das habe ich auch zuerst gedacht, aber dann ist es mir — nachdem ich so richtig in mich gegangen bin — zu meiner eigenen Überraschung doch gelungen, mir die Verlegenheit des israelischen Rechtsradikalismus auszumalen. Und siehe da, ich sah Shamir, wie er mit sham(ir)rotem Kopf verlegen von einem Bein aufs andere hüpft, und Kahane, wie er betreten zu Boden blickt, und all die anderen, und wie sie dann plötzlich gemeinsam ausrufen: „Nein, wir haben einen großen Fehler gemacht (Shamir, ganz leise: ,Vielleicht sogar zwei!‘), jetzt, wo sie keine Steine mehr werfen, erkennen wir das Menschliche in ihren Gesichtern. Laßt uns ihnen die Unabhängigkeit geben!“

Doch schon kurz nach dieser Vision kamen Zweifel in mir hoch: Was, wenn die PalästinenserInnen nicht auf Micha Brumlik hören? Zum Glück werden sie zur Vernunft genötigt, fiel mir erleichtert ein. Andreas Kiesheyer,

Münster