New Yorks verschobene Träume

■ Die US-Metropole hat sich einmal mehr am Bankrott vorbeilaviert: Zwar steht der '92er Haushalt, doch zu welchem Preis? Serviceleistungen insbesondere für die Bedürftigen werden gekürzt, die Steuern erhöht/ VON ANDREA SEIBEL

Es ist mehr als nur ein Zeitungsbild: New Yorks Bürgermeister David Dinkins steht da inmitten korpulenter Damen der „Harlem Honigbär Senioren Schwimmerinnen“. Mühsam lächelt er, der grauhaarige demokratische Seigneur, denn welche „Erfolgsnachricht“ kann er ihnen schon überbringen: etwa die, daß die städtischen Bäder zumindest in den nächsten Monaten nicht geschlossen werden und sie ihre Runden weiter drehen dürfen?

Derart also lauten die Details nach fünfmonatigen zähen Verhandlungen der Dinkins-Administration mit einem renitenten, vor den Neuwahlen im November stehenden Stadtrat: Um das 3,5 Milliarden große Loch im 29 Milliarden Dollar-Budget für das Jahr 1992 (gültig ab 1. Juli 1991) zu stopfen, werden nicht nur die Einkommen- und Grundstücksteuern erhöht (man erhofft sich hieraus 735 Millionen Dollar Plus), sondern kürzt man besonders radikal bei den öffentlichen Diensten (—1,6 Milliarden Dollar). 10.000 städtische Angestellte stehen vor der Kündigung, gerade im medizinischen und schulischen Bereich werden Präventivprogramme wie etwa die Behandlung schwangerer drogenabhängiger Frauen oder der Schulgesundheitsvorsorge um die Hälfte gekürzt. 5.000 Alte bekommen kein Mittagessen mehr, die soziale Beratung obdachlos gewordener Familien hört ganz auf. Aber auch die Dienste von Bibliotheken werden eingeschränkt, Straßen kaum noch gereinigt (wurden sie das jemals?) und die Zukunft der New Yorker Bäume und des Zoos ist unsicher. Ein Budget der „vertagten Träume“, wie die 'New York Times‘ titelte.

Der New Yorker ist immer schon eigenartig stolz auf seine Stadt gewesen, Inbegriff moderner Urbanität. Doch mittlerweile zehrt er von den Mythen, die Touristen um sein multiethnisches Mekka ranken. Immer wieder landen die New Yorker unsanft auf dem heißen, löchrigen Asphalt ihrer stickigen Straßenschluchten, müssen zurückfinden in ihre bittere Realität: die einer infrastrukturell mehr und mehr verkommenden Stadt, deren Mißverhältnis von Ressourcen und Kosten zum Himmel schreit. Einer Stadt, die nicht nur fiskalisch in der Dauerkrise steckt, sondern auch sozial-politisch im Teufelskreis verfangen: Crack, Aids, Obdachlosigkeit, Kriminalität und brutalste Gewalt auf den Straßen haben aus dem mystifizierten „melting pot“, aus der bewunderten, einmaligen „Stadt der Städte“ (Truman Capote) eine Metropole des Bankrotts gemacht. Und Dave Dinkins soll jetzt für alles geradestehen und büßen, als ob er längst versprochene Wunder nicht eingehalten hätte.

Spätestens seit der Budget-Debatte wird der gerade 18 Monate regierende, erste schwarze Bürgermeister des „Big Apple“, in den viele „grassroots“-Gruppen und Minderheitenvertreter geradezu messianische Erwartungen setzten, von allen Seiten unter Druck gesetzt. Dem 35köpfigen Stadtrat war des Bürgermeisters Besteuerungsvorschlag zu „radikal“, und er bot ihm bis hin zur Obstruktion Paroli. Dinkins' demokratischer Parteigenosse, der Gouverneur vom Bundesstaat New York, Mario Cuomo, hat Ambitionen auf das Präsidentenamt und will Dinkins in der jetzigen Situation nicht allzu sehr entgegenkommen. Was er übrigens auch nicht kann, denn er hat mit dem eigenen Bundesbudget genug Probleme. Und Oberwächter 'New York Times‘ hackt schon seit Tagen auf Dinkins herum, weil dessen Budget die Mittelklasse besonders hart treffe.

Reiche machen auf Penner — „cheap chic“

Arme Stadt! Schon lange zeigen die Fernsehstationen nicht mehr die Bilder von Irren und Obdachlosen, die wie auf einer Art Narrenschiff durch die Straßen segeln. Warum auch: Homeless zu sein ist eine mögliche Existenzform unter vielen. Es lebe die individuelle Entscheidung! Friedlich sitzen Banker und Obdachloser vor einem Imbiß und schlürfen dünnen Kaffee. Neu sind allerdings Fernsehberichte über Menschen in Anzug und Krawatte, die verklemmt auf Treppen und öffentlichen Plätzen sitzen, und billiges Essen aus braunen Tüten futtern. Das neue Schlagwort der 90er: cheap chic! Doch wer öffentlich mit den Markenzeichen der Armen kokettiert, dem droht der soziale Abstieg garantiert nicht, wohl aber die fragile untere Mittelklasse. Leuten wie Helen Daniels etwa, die als alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern in Harlem ein kleines Backsteinhaus besitzt und 47.000 Dollar im Jahr verdient. Mit der neuen Steuerlast wird ihr Spielraum noch enger, will sie ihre Kinder auf die Universität schicken. „Die Leute sagen, ich wäre Teil der Mittelklasse. Aber der Überlebenskampf ist so hart, daß ich mich wirklich nicht besonders gut als Mittelständische fühle.“

Linken wie rechten Kritikern ist David Dinkins zu dezent, unaggressiv, vermissen manche den derben Gestus seines Vorgängers Ed Koch. Auch Wayne Barrett von der linksliberalen Wochenzeitung 'Village Voice‘ moniert, daß es die Stadt immer noch nicht geschafft habe, eine faire, progressive Besteuerung zu entwickeln, die den wirklich Reichen dort in „Wall Street“ zeigt, was eine Harke und starke Linke ist. Und die Gewerkschaften, für die es neben Lohnpolitik keine andere auf Erden gibt, reden gar von „Verrat“. „Meine Leute“, so Gewerkschafts-Boß Stanley Hill vom „District Council 37“ der städtischen Angestelltengewerkschaft, „sind keine Opferlämmer.“ Dennoch erklärten sich jetzt zwei Gewerkschaften bereit, auf Lohnerhöhungen zu verzichten, um so zumindest 5.000 Arbeitsplätze zu retten. Zwischen Busineß und Gewerkschaften eingeklemmt, geht Dinkins die Luft aus.

New York, so das Fazit der letzten, erregten Tage und Wochen, diskutiert viel und gerne über sich, was nicht unbedingt etwas bedeutet. Im Acht-Sekunden-Takt der Fernsehnachrichten hört sich alles wundersam einfach an, geht es um die Zukunft der Stadt. Doch langfristige Konzepte, wie sich die Acht-Millionen-Metropole im Angesicht einer landesweiten Rezession regenerieren und rekonstituieren kann, gibt es kaum. Einzig Privatisierungen öffentlicher Dienste werden im bisher liberalen, gewerkschaftsdominierten New York als Wunderdroge gehandelt. Sie machen schon ein Sechstel des jetzigen Haushalts aus, und man verspricht sich bis zu zehn Prozent weitere Kostenersparnis. Im Gespräch ist die Privatisierung des Busverkehrs, der Müllabfuhr und der beiden großen Flughäfen La Guardia und JFK. Das Recycling- Geschäft ist schon privatisiert und wird von drei großen Mafia-Clans erledigt. Oft transportieren sie den Abfall nur in einen anderen Bundesstaat, um ihn dort auf Müllhalden zu werfen. Das ist billiger als den Müll wiederaufzubereiten.

Auch eine aktivere Wiederansiedlung von Industrie — die seit den 60ern hier ihre Zelte abbrach um in steuergünstigere Gefilde zu ziehen — ist ein langfristiges Projekt. Die nächsten Jahre werden in New York vielleicht das immergleiche Bild abgeben: noch stärker zurechtgestutzte Sozialbudgets und steigendes Steueraufkommen, die die Stadt zu einem protopyischen Dritte-Welt-Soziotop machen könnten: mit wenigen, unverschämt Reichen, einem dahinsiechenden, traumatisierten Mittelstand und dem Endloselend in den Backsteinghettos. Eine jüngst veröffentlichte Studie belegt zudem, daß es zwei Drittel der US-amerikanischen Städte strukturell nicht viel besser geht als New York.

„New York“, so Felix Rohatyn, jener Banker, der mit der „Municipal Assistance Corporation“ (MAC), einer Kreditbeschaffungsbehörde, der Stadt 1975 aus der fiskalischen Krise half, „New York wird überleben. Aber es kann nicht immer davon ausgehen, daß es, nur weil es sich wieder gerappelt, nicht doch schwer angeschlagen ist.“ Für Arthur Cheliotes, Präsident von „Local 1180“, einer Gewerkschaft, die die Angestellten der Stadt vertritt, ist der Neuaufbau New Yorks unabdingbar mit einer veränderten politischen Kultur verknüpft, die nicht mit dem Gang zur Wahlurne endet. Die Dauerregentschaft der Demokraten und ihrer Klientel in New York signalisiert für ihn „Unreife“. „In Osteuropa hat der hochgezogene eiserne Vorhang die Regierungen total verändert. Wir müssen uns jetzt die Frage stellen, haben diese Länder etwa mehr Pluralität als wir?“ Vielleicht ist New York wirklich langsam reif für einen „Runden Tisch“.