„Baby-Zingari“ greifen Touristen in die Tasche

Roms Behörden haben mit der Erfassung klauender „Nomaden“-Kinder begonnen/ Bis zu 500 Anzeigen täglich/ Wer keine Eltern vorweisen kann, wird zur Adoption freigegeben/ Grüne: Lieber Arbeit geben statt Fingerabdrücke nehmen  ■ Aus Rom Werner Raith

Die Szene gehört in Rom fast schon zum Alltag: abrupt stoppt ein Autobus, aus der — meist auch während der Fahrt offenen — Tür springt ein kleiner Junge, der Fahrer brüllt aus dem Fenster „Haltet ihn, den Dieb“, und meist findet sich der Kleine wenige Sekunden später im eisernen Griff wildblickender Erwachsener.

In diesem Fall hebt der braunhäutige Junge mit Unschuldsblick seine Arme, streckt die Finger aus: „Ich habe nichts geklaut, bin nur aus Angst weggerannt, seht, meine Hosentaschen sind leer.“ Tatsächlich: auch umgedreht findet sich nicht eine Lira drin. Die Touristen murren gegen die Denunzianten, die sich offenbar geirrt haben. Inzwischen ist der Busfahrer ausgestiegen, hat sich gemütlich durch die nun schon auf einige hundert angewachsene Zahl Schaulustiger gedrängt. „Das muß man anders machen“, sagt er, nimmt den Jungen mit beiden Händen hoch, schüttelt ihn ein wenig — und nun purzelt nicht weniger als ein halbes Dutzend Geldbeutel heraus. Gute 400.000 Lire, umgerechnet mehr als 550 DM, zählen die Carabinieri zusammen, die ihn abtransportieren. Das Mitleid der Passanten ist inzwischen in rabiate Wut umgeschlagen.

Kein Zweifel: die Kinderkriminalität im Zentrum Roms ist zu einem großen Problem geworden. Dutzende mitleiderregend schmutziger Kinder umdrängen den Ankömmling, halten ihm einen Pappkarton unters Kinn, auf dem „Habe Hunger“ oder „bitte Geld“ steht, doch bis er das gelesen hat, haben ihn kundige Finger um die Gürtellinie herum abgetastet, seinen Reisebeutel aufgezogen oder die Handtasche gefilzt. In Roms Polizeistationen laufen an Spitzentagen mehr als 500 Anzeigen ein.

Den Großteil des Jahres über sehen die Behörden derlei Treiben ziemlich untätig zu. Erst wenn der große Tourismus kommt und sich beim Shopping gestörte Gemahlinnen einflußreicher Rombesucher beschweren, schreitet die Ordnungsmacht zu Tat. Mal werden im Zentrum spektakulär gleich mehrere hundert „Nomadenkinder“ festgenommen und, allseits sichtbar, zur Präfektur eskortiert, mal rücken Polizeistreifen in den Camps draußen vor der Stadt ein, holen erwachsene Roma oder Sinti zur Feststellung der Elternschaft Minderjähriger und lassen sich dabei ausgiebig abfilmen.

Dieses Jahr hat sich das Jugendgericht von Rom Neues einfallen lassen: die Polizei darf nun auch bei Kindern unter vierzehn Jahren eine regelrechte erkennungsdienstliche Behandlung vornehmen, mit Foto und Fingerabdrücken und anschließender Speicherung im Kriminellenkataster. Das alleine freilich würde wohl die kleinen Klaumichs ebensowenig beeindrucken wie deren Eltern, die in der Regel behaupten, sie seien nicht die Eltern. Doch nun gehen die Behörden einen Schritt weiter: wer keine Eltern vorweisen kann, wird zur Adoption freigegeben.

Dagegen hat sich ein Sturm der Entrüstung erhoben — Menschenrechtler protestieren gegen die razzienartige Festnahme auch nicht beteiligter Kinder, die Sprecher der Roma- und Sintiverbände protestieren dagegen, daß man nur sie dikriminiert, andere Straßenräuber aber nicht angeht, Parlamentarier fordern eine Rechtfertigung durch Innenminister Vincenzo Scotti.

So richtig die Proteste unter humanitärem und juristischem Aspekt sind, so wenig erweisen sich die meisten alternativen Abhilfevorschläge als durchdacht und sachkundig. Die Gemeinschaft von Sant' Egidio, wo zahlreiche Zuwanderer leben, fordert „Lebensbedingungen für die Zingari, die Klauen als einzig möglichen Broterwerb verhindert“ — wogegen die Behörden die mitunter recht beträchtlichen Geldmengen setzen, die sie in Wohnwagen klauender Kinder beschlagnahmt haben.

Andererseits sind zahlreiche „Baby-Zingari“ tatsächlich ohne Eltern — eingekauft bei Menschenhändlern an der jugoslawischen Grenze, um sie zum Klauen einzusetzen; die Erforschung der wirklichen Herkunft ist meist unmöglich. Die Grünen wiederum meinen, man könne die kleinen Diebe ökologisch doch wertvoll einsetzen, bei der Stadtreinigung oder bei der Instandhaltung kommunaler Parks — in frommer Verdrängung, daß das wohl ein klarer Fall von verbotener Kinderarbeit wäre.

Hinter vorgehaltener Hand prophezeihen Polizisten allerdings, daß das Ganze „wieder genauso ausgehen wird wie in den anderen Jahren: Wir sehen zu, daß wir über den Sommer kommen, dann nimmt die Zahl der Touristen und deswegen auch die der Kinderbanden ab. Und dann lassen wir die festgehaltenen Klaumichs auch wieder raus.“