Das Warten auf den zweiten Mann

Russische Volksdeputierte sind seit zwei Tagen mit der Wahl ihres Parlamentspräsidenten beschäftigt/ Oberster Sowjet der UdSSR billigt Unionsvertrag  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Insgesamt dreimal gaben die 1.000 russischen Volksdeputierten ihre Stimme ab — einen Präsidenten für ihr Parlament zu wählen gelang ihnen aber dennoch nicht. Immerhin jedoch näherte sich Ruslan Chablutov, Kandidat der Bewegung Demokratisches Rußland, der erforderlichen Stimmenzahl von 531. Während er am Freitag nur 387 Stimmen erhalten hatte, waren es am Samstag bereits 405. Chablutov leitete bereits in den letzten Wochen die Parlamentsgeschäfte kommissarisch und verdiente sich bei den harten Verhandlungen mit dem Zentrum die ersten Sporen. eine Stimmenabnahme verzeichnete dagegen sein Gegenspieler, der von den Kommunisten unterstützte Sergej Baburin. Er verschlechterte sich von 485 auf 462. Die endgültige Entscheidung soll nun heute fallen. Die Deputierten beschlossen, erst dann in die Somerpause zu gehen, wenn ein neuer Parlamentspräsident — nach Boris Jelzin der zweitmächtigste Mann in Rußland — gewählt worden ist. Wiedergewählt wurde vom Volksdeputiertenkongreß der russische Ministerpräsident Iwan Silajew, 827 Abgeordnete stimmten für, 69 gegen den seit Juni 1990 amtierenden Regierungschef.

Für eine neue Parteidisziplin entschieden sich am Donnerstag die „Kommunisten für Demokratie“. Die Fraktion war während der letzten Sitzungsperiode im Russischen Kongreß der Volksdeputierten entstanden und will sich nun Anfang August zu einer „Demokratischen Partei der Kommunisten Rußlands“ (DPKR) formieren. Diese wird sich dann in Konkurrenz zur reaktionären aber vom KPdSU-Zentrum gehätschelten „Kommunistischen Partei Rußlands“ (KPR) befinden, die erst letzten Sommer entstand. Da die KPR es noch nicht geschafft hat, sich auf der Ebene des russischen Staates juristisch registrieren zu lassen, träumen die zukünftigen DPKRler davon, daß sie bald in Rußland die einzig legitimen kommunistischen Parteistrukturen vertreten — und entsprechend in den dicken Topf des Parteivermögens greifen dürfen.

Um Disziplin und Legitimität geht es auch in der Polemik zwischen der „Zentralen Kontrollkommission“ der KPdSU und Eduard Schewardnadse. Dieser hatte seinen Austritt damit begründet, daß die Kommission ein „inquisitionsähnliches“ Untersuchungsverfahren gegen ihn eingeleitet habe. Die schnappte am Donnerstag beleidigt zurück: wenn ein Parteimitglied ständig herumreise und erkläre, zur KPdSU sei eine Konkurrenzpartei nötig, dann dürfe man doch wohl einmal nachfragen, wie das denn gemeint sei. „Inquisitorisch“ blickt die Kommission immerhin in Schewardnadses Seele: dessen Behauptung, daß es ihm sehr schwer gefallen sei, den Austrittsentschluß zu fassen, könne man „wohl kaum für aufrichtig“ halten.

Auch der Oberste Sowjet der UdSSR tat sich am Donnerstag und Freitag mit dem Beschließen schwer. Zur Debatte stand der neue Unionsvertrag des Zentrums mit neun Staaten, für den schließlich 307 Abgeordnete stimmten.

Im Projekt ist allerdings vorgesehen, daß die Zentralregierung und die Einzelstaaten unabhängig voneinander „auf zwei Kanälen“ in den Säckel greifen dürfen. Rußland und die Ukraine haben etwas dagegen. Sie wollen die Steuern allein einnehmen und weiterverteilen, weil nur dieses Verhalten einem souveränen Staat als Mitglied einer Föderation zu Gesicht stehe. Michail Gorbatschow hatte unter dem Druck, vor dem Siebenerwirtschaftsgipfel in London Eingkeit demonstrieren zu müssen, diesem Argument nachgegeben. Nervös huschte er bei der Sitzung am Donnerstag hinein und hinaus, wohl wissend, daß die starke konservative „Sojus“-Fraktion im Obersten UdSSR-Sowjet die Gegenposition vertritt: ein Gebilde mit Staatsanspruch, das noch nicht einmal Steuern einziehen könne, sei keine Föderation mehr, sondern allerhöchstens eine Konföderation, und somit indiskutabel.