„Für Hindus gibt es kein letztes Wort“

■ Nirmal Varma über Fundamentalismus, die Identität der Hindus und die indische Zensur der „Satanischen Verse“

Nirmal Varma (1929) ist ein Vertreter der „Nayikahani“ (Neue Erzählung) der neueren Hindi-Literatur. Er war Mitglied der Kommunistischen Partei Indiens und hat fast zehn Jahre in Europa, vor allem in der Tschechoslowakei, verbracht. Die Verlorenheit und Hilflosigkeit von Indern in einer europäischen Großstadt thematisierte Nirmal Varma in seiner 1973 erschienenen Kurzgeschichte „Do ghar“ (Zwei Zuhause). Anläßlich des Indien-Festivals sprach Simone Lenz mit Nirmal Varma in Berlin.

taz: Wie haben Sie die Teilung Indiens, die Separation Pakistans erlebt?

Nirmal Varma: Ich mußte meine Heimat nicht verlassen, war also selbst nicht unmittelbar betroffen, und dennoch empfand ich den Exodus der Moslems aus Indien und der Hindus aus Pakistan, die damit einhergehnden gewaltsamen Ausschreitungen und Verteilungskämpfe als einen tiefen und sehr traurigen Einschnitt. Damals arbeitete ich als Student in der kommunistischen Partei. Wir bemühten uns um die Versorgung der moslemischen Flüchtlinge, die in Lagern unter Polizeischutz auf ihre Überführung nach Pakistan warteten.

Wie ist Ihre eher metaphysische These zum Thema Flucht und Identität zu verstehen, wonach der eigentliche Identitätsverlust des Menschen heute von seiner Selbst-Vergessenheit, mehr noch vom Verlust des Jenseits drohe?

Der moderne Mensch lebt in einer tiefen Ungewißheit, er weiß nicht, ob sein Leben eine tiefere Bedeutung in Bezug auf ein Ideal hat, an das er wirklich glauben kann. Im Mittelalter war es die Religion, die Kirche, in meiner Heimat war es ein tiefes Vertrauen in die Gemeinschaft. Sind diese Winkel des Vertrauens, des Glaubens und der Abhängigkeit einmal zerstört, so verursacht das eine weitaus größere Einsamkeit als vielleicht das Befremden oder die Entwurzelung einer Person, die ihre Heimat verlassen mußte. In der zweiten Generation ist das womöglich schon vergessen, man denke nur an die europäischen Juden, die Anfang des 20. Jahrhunderts in die USA ausgewandert sind und sich heute allesamt Amerikaner nennen. Eines der wichtigsten Phänomene des 20. Jahrhunderts ist, daß der Mensch das Gefühl seiner Zugehörigkeit verloren hat.

Welche Bedeutung hatte es für Sie, der kommunistischen Partei anzugehören, welche Utopien waren damit verbunden?

Als ich der kommunistischen Partei beitrat, fühlte ich mich zu einer größeren internationalen Gemeinschaft zugehörig. Es verhieß also auch eine Überwindung der Provinzialität. Aber mehr und wichtiger als das waren die Versprechen des Kommunismus, vielen Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten mit radikale Maßnahmen zu begegnen. Als junger Inder ließ man sich sehr leicht von solchen Träumen und Idealen verleiten. Auch als Schriftsteller war ich von der lateinamerikanischen und französischen Literatur dieser Zeit beeindruckt, ebenso von den russischen Schriftstellern, etwa von Tschechow oder Tolstoi, die mir das Gefühl gaben, daß es eine Chance auf Veränderung gibt. Hinzu kam meine ganz persönliche Entwurzelung. Da mein Vater sechs Monate in Simla und die andere Hälfte des Jahres in Delhi arbeitete, waren wir auf die kleine Einheit unserer Familie angewiesen und keiner größeren Gemeinschaft verbunden. Die Partei gab mir also eine gewisse Identität. Nach der sowjetischen Invasion in Ungarn und der Tschechoslowakei waren diese Ideale natürlich verloren. Ganz zu schweigen von den opportunistischen Fehlern der kommunistischen Partei in Indien: Indien ist seit jeher sehr religiös, das heißt nicht zwingend orthodox, aber diese Religiosität gibt einem Inder die Möglichkeit, sich in eine dreitausendjährige Tradition zu stellen. Die kommunistische Partei hat sich dagegen einem Modernismus verschrieben, der sich kaum von dem kapitalistischer Prägung unterscheidet. Industrialisierung, Zentralisierung, eine hochentwickelte Bürokratie, Englisch als Schulsprache — all diese Faktoren haben Indien zu einem armen Verwandten Europas gemacht.

Welche Alternativen sehen Sie für das heutige Indien?

Mahathma Gandhi hat solche Alternativen aufgezeigt. Indien ist ein armes Land, aber muß nicht notwendig zum Bettler werden, der auf die Hilfe und Dollars des Westen rechnet. Wenn wir unabhängig sein wollen, sollten wir uns an einer Ökonomie, an einem Lebensstil orientieren, die im Einklang mit unseren eigenen Bedürfnissen und Ressourcen stehen. Leider war Mahathma Gandhis Stimme nach seinem Tod zu schwach und blieb vom indischen Mainstream unbeachtet, sowohl vom kommunistichen Extrem als auch von jenen, die nach der Unabhängigkeit an die Macht kamen und einen westlichen Weg bestreiten wollten. Heute stehen sie leider vor einer Krise, weil sie nicht bedacht haben, zu welchen ökologischen Katastrophen ihre Politik führen würde.

Andererseits ist die freie Marktwirtschaft doch gerade heute weniger umstritten denn je.

Ich halte das für eine falsche Euphorie, die nicht lange anhalten wird. Wohin soll dieser grenzenlose Fortschritt denn führen?

Sind die jüngsten fundamentalistischen Bewegungen als eine Reaktion auf vorschnelle Modernisierungskonzepte zu verstehen?

Ja, insofern sich das Wiederaufleben des Hinduismus — ich würde nicht von Fundamentalismus sprechen — gegen viele Züge des Modernismus wendet; daß man etwa seine Religion aufgeben muß, um ein guter Demokrat zu sein, daß Staatsbürgerschaft und Religion nicht miteinander einhergehen können. Angesichts der Moslems, die es immerhin vermochten, einen eigenen Staat zu konstituieren, fühlen sich viele Hindus, obwohl sie doch die Mehrheit der Bevölkerung bilden, von den säkularistischen Modernisierern übergangen. Indien war nicht in der Lage, eine Hindu-Identität auszuprägen. Ich würde auch nicht von einem neuen moslemischen Fundamentalismus sprechen. Der Islam hat doch schon immer an die fundamentalen Prinzipien des Korans geglaubt. Und wenn Salman Rushdie ein Buch schreibt, das, wie der Ayathollah behauptet, gegen den Koran ist, dann verhängt man gegen ihn die Todesstrafe. Da gibt es keinen Zweifel.

Von den iranischen Doktrinären einmal abgesehen, halten die meisten Moslems die Fatwa des Ayatollah allerdings für eine überzogene Reaktion auf Rushdies Roman.

Aber sie würden den Koran für das letzte Wort halten, für das endgültige Buch. Für die Hindus gibt es kein solches letztes Wort. Und hier sehe ich einen wesentlichen Unterschied. Im Islam gibt es nur die Differenzierung, ob Rushdies Buch gegen den Koran ist oder nicht, wenn es aber gegen den Koran ist, dann ist es ein falsches Buch.

Indien war doch das erste Land, das die „Satanischen Verse“ verboten hat.

Darüber waren die Hindu-Liberalen auch sehr unglücklich, denn wenn wir uns als säkularisiertes Land begreifen, warum sollten wir dann ein Buch von einem Autoren zensieren, der in Indien geboren ist, und warum sollten wir uns vor der Reaktion einer Religion fürchten? Das widerspricht den fundamentalen Grundsätzen unserer Verfassung. Die Politik der Zensur war doppelbödig. Es kann nicht angehen, daß die Moslems jenseits des allgemeinen Zivilrechts ihre eigene Rechtsordnung zugestanden bekommen.

Welche Chancen geben Sie der indischen Union, wie kann sie die kommunalistischen und ethnischen Sezessionsbestrebungen überdauern?

Indien kann bestehen, wenn die Politik die bestehenden Verhältnisse reflektiert. Je größer die Kluft zwischen der Regierung, der Administration und der Lebensweise des Volkes, desto größer die Gefahr der Desintegration. In einem so pluralistischen Land mit so unterschiedlichen Sprachen und Religionen, mit so verschiedenen Landesteilen darf es keinen Zentralismus geben. Die indische Zivilisation hat nur dann eine Überlebenschance, wenn bestimmten Regionen mehr Freiheiten eingeräumt erden, die Zentralregierung nur noch als Vermittler zwischen den Bundesstaaten fungiert.

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Aber so etwas können nur sehr umsichtige Politiker umsetzten.

Wäre eine solche Union mit einer europäischen Gemeinschaft vergleichbar?

Anders als in Europa gibt es in Indien bei aller Vielfalt doch sehr viel mehr Gemeinsamkeiten. Auch wenn etwa die Moslems eine andere Religion haben — solange sie in Bengalen leben, sprechen sie doch Bengali wie die Hindus. Leben sie in Kerala, so haben sie die gleichen Brüche wie die Hindus, die in Kerala leben. Die kulturelle Identität eines Moslems oder Hindus in Kerala speist sich aus einer gemeinsamen Vergangenheit, einem gemeinsamen Erbe. Deshalb glaube ich nicht, daß Indien wie etwa die Sowetunion zerbrechen könnte.

Glauben Sie nicht, daß in Kaschmir eine Sezession droht?

Ja, aber das ist ein Sonderfall. Kaschmir grenzt an Pakistan, so daß es für Pakistan sehr leicht ist, die moslemischen Gefühle der Glaubensbrüder anzusprechen.

Sie haben lange in der Tschechoslowakei gelebt. Hat das zu Ihrer Desillusionierung als Kommunist beigetragen?

Ich habe in der Tschechoslowakei nicht als Kommunist gelebt, sondern als indischer Schriftsteller, der das kommunistische System bereits in Frage gestellt hatte und an der tschechischen Literatur interessiert war. Selbstverständlich hat diese Erfahrung meine Haltung noch bestätigt. Ich war von Masaryk, dem ersten Präsidenten, sehr beeindruckt, denn dieser Philosoph und Gelehrte brachte es fertig, umgeben von semi-faschistischen Regimen ein demokratisches System aufzubauen. Dann war ich von der Literatur, von Sharpic, Jaruslav Hajec beeindruckt. Ich war glücklich, Autoren, deren Werke der Zensur unterlagen, die ich in Prag persönlich kennengelernt hatte, ins Hindi übersetzen zu können.

Man kann die Teilungen Indiens und Deutschlands vergleichen. Erscheint Ihnen die Erfahrung der Wiedervereinigung übersetzbar?

Dazu ist es noch zu früh. Ich hätte noch ausführlicher mit Schriftstellern der DDR in den neuen Bundesländern sprechen müssen, um mir ein Bild davon zu machen, was ihnen die Wiedervereinigung gebracht hat — gewiß größere Liberalität und Freiheit, aber auch ein Gefühl der Verlorenheit. Es dauert eine Weile, bis solche historischen Umbrüche aufgenommen werden können und ihren Ausdruck in der Litertatur und Poesie finden. Das gilt auch in Indien. Nur wenige indische Autoren haben sich bislang damit auseinandergesetzt, daß Menschen, deren Empfindungen und Erfahrungen doch sehr traditionell sind, zugleich in einer sehr modernistischen und säkularistischen Weise handeln. Dieser Zusammenprall zwischen dem Hunger und den Bedürfnissen der Seele und der Realität, in der sie operieren müssen, ist wirklich ein zentrales Problem unserer Zeit.

„Die Schriftsteller aus Indien und Deutschland, die sich aus Anlaß der Indien-Festspiele in Berlin versammelt haben, sind besorgt über Versuche, das Recht auf Asyl in der BRD einzuschränken oder auszuhöhlen. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das Grundrecht auf Asyl auch.“ So heißt es in einer Erklärung, die am 11.9. von den Teilnehmern des Symposiums beschlossen und an den Bundestag weitergeleitet wurde. Lesungen von Nirmal Varma und weiteren indischen Autoren heute, 19 Uhr, Aula der alten Uni Heidelberg; 21.9., 18 Uhr, Forum der VHS Köln.

Unter dem Titel Flucht und Identität im Spiegel indischer und deutscher Gegenwartsliteratur trafen sich im Literarischen Colloquium Berlin indische und deutsche Autoren, um über das gemeinsame Trauma der Staatenteilung und seine Folgen zu diskutieren.

Hier wie dort das Resultat der neuen Weltordnung nach dem Zweiten Weltkrieg, wenn auch aufgrund ganz unterschiedlicher Vorzeichen: Hier durch die Unvereinbarkeit zweier politischer Systeme und Weltanschauungen; dort durch die Unvereinbarkeit zweier „Kulturen“ — so jedenfalls propagierten es in den dreißiger und vierziger Jahren die Verfechter eines unabhängigen islamischen Staates Pakistan.

Vielleicht weil ihr Schreiben stets eine Flucht aus vorgegebenen Sprachräumen versucht, fiel es den versammelten Autoren schwer, sich mit den Begleiterscheinungen der Migration unter negativen Vorzeichen auseinanderzusetzen. Selbst wenn die meisten lebensgeschichtlich betroffen sind, so zählen sie doch zu dem kleinen Kreis der Kreativen, der den Bruch und die Krise zum Sujet zu machen versteht: „Ohne die Erfahrung des Exils, ohne die Flucht hätte ich meine Identität nicht gefunden.“

In bester indo-englischer Tradition hat bereits Salman Rushdie in seinem Roman Scham und Schande über den Zusammenhang von Flug und Flucht philosophiert: „Ich bin Emigrant aus einem Land (Indien) und Neuankömmling in zweien (England, wo ich lebe, und Pakistan, wohin meine Familie gegen meinen Willen gezogen ist), und ich neige zu der Theorie, daß die Ressentiments, die wir Mohajirs hervorrufen, mit unserer Bezwingung der Schwerkraft in Zusammenhang stehen. Wir haben das vollbracht, wovon seit alters her alle Menschen träumen, das, worum sie die Vögel beneiden; das heißt: Wir sind geflogen.“