Kundgebungen für und gegen Gamsachurdia

■ Sowjetische Unternehmungen verstaatlicht/ Oppositionelle schreiben Jelzin-Lösung für Ossetien?

Tiblissi (afp/taz) — Gegner und Anhänger des georgischen Präsidenten Swiad Gamsachurdia versammelten sich gestern in Tiblissi zu Großkundgebungen. Zehntausende forderten vor dem Iveria-Hotel, dem gleichen Platz, wo früher die obligatorischen 1.-Mai-Kundgebungen stattfanden, ultimativ den Rücktritt des Präsidenten. Aufgerufen hatte ein Bündnis von 30 Parteien und Initiativen sowie zahlreiche Intellektuelle, die Gamsachurdias autoritären Regierungsstil kritisieren. Die Gegenkundgebung fand in unmittelbarer Nähe, vor dem Palast des Präsidenten, statt. Dort wurde der Opposition vorgeworfen, sie wolle Georgiens raschen Weg in die Unabhängigkeit vereiteln. Gamsachurdia hatte am Sonntag mit zwei Parlamentsbeschlüssen die nationalen Leidenschaften geschürt: die bislang der Sowjetunion unterstellten Betriebe wurden mit sofortiger Wirkung nationalisiert und die sowjetischen Truppen in Georgien wurden zu fremden Besatzungstruppen erklärt. Im Verlauf der Parlamentsdebatte waren 40 Abgeordnete aus Protest ausgezogen, nachdem der Antrag, die Debatte life zu übertragen, mit 78 zu 72 Stimmen abgelehnt worden war. Gamsachurdia hatte mit dem Argument, man dürfe die Situation nicht noch weiter anheizen, für eine zeitlich versetzte Zusammenfassung plädiert. Sein „Rundes- Tisch-Bündnis“ verfügt über eine Vierfünftelmehrheit im Parlament. Obwohl zahlreiche der engsten Mitarbeiter des Präsidenten auf die Seite der Opposition getreten sind, ist sein Regime bei den Abgeordneten wie der großen Mehrheit der Bevölkerung nach wie vor unangefochten. Da Gamsachurdia nur auf dem Weg des Impeachments wegen Hochverrats zum Rücktritt gezwungen werden kann, bleibt der Opposition „die Straße“ als einziges Druckmittel.

Die oppositionelle Nationaldemokratische Partei hatte sich am Sonntag an Rußlands Präsidenten Boris Jelzin gewandt und ihm versichert, sie kämpfe für den Sturz der „neobolschewistischen“ Diktatur Gamsachurdias. Die Nationaldemokraten erklärten, sie wollten sich für die friedliche, einvernehmliche Lösung des Konflikts mit den Süd-Osseten einsetzen. Süd-Ossetien gehört seit 1922 zu Georgien, will sich aber mit der autonomen Republik Nord- Ossetien vereinigen, die zur Russischen Föderation gehört. In der Vergangenheit hatte die georgische Regierung diesen Wunsch als Manöver des KGB denunziert und war mit großer Härte gegen die Osseten vorgegangen. Seit Beginn der Auseinandersetzungen sollen fast 100.000 Menschen von Süd nach Nord-Ossetien geflohen sein. Nach wie vor blockiert die Opposition mit zwei Straßensperren den Rustaweli-Prospekt. Polizei und Nationalgarde sind gespalten, der bisherige Führer der Garde, der Schriftsteller Kitovani, hat außerhalb der Hauptstadt mit dem Gros der Garde Stellung bezogen. Er versicherte: „Wir werden keinesfalls auf unsere Brüder und Kinder schießen. C.S.