PORTRÄT
: Verschiedene Orte der Wahrheit

■ Markus Wolf, der Meisterspion, denkt klug und verdrängt hervorragend

„Graue Eminenz der Spionagewelt“ oder etwas flotter: „Paul Newman der Geheimdienste“ — nur mit den Größten und Schönsten wird der verglichen, der sich gerne statt mit seinem Vornamen Markus zärtlich mit „Mischa“ anreden läßt. Eine Eigenschaft jedoch fehlt in der üblichen Aufreihung der Wolfschen Besonderheiten. Mischa-Markus ist ein Hellseher. Schon im Wende-November vor zwei Jahren sinniert er, jeder Mensch werde im Laufe des Lebens „mit einer Richtstatt konfrontiert, die der Ort seiner Wahrheit ist“. Die Welt hält diverse Orte und verschiedene Wahrheiten für den Ex-General bereit. Moskau: Dorthin reist er mit den Eltern 1934 zum ersten Mal ins Exil. Der Vater, von Hause aus Arzt, Dramatiker und Kommunist, rettet seine Familie vor den Nationalsozialisten in das Reich Stalins. Sohn Markus besucht die Karl-Liebknecht- und die Komintern-Schule. Während dieser Zeit schließt er sich der Gruppe „Ulbricht“ an und kehrt 1945 in der Uniform eines sowjetischen Leutnants nach Berlin zurück. Die nächsten Jahre arbeitet er beim Berliner Rundfunk. Als sich die DDR gründet, reist Wolf abermals nach Moskau und vertritt den noch jungen Staat als Erster Rat der DDR-Mission. Später behauptet er, in dieser Zeit ein „halber Russe“ geworden zu sein. Seinen leiblichen Vater und Konrad, den filmemachenden Bruder, stellt der Ex- General in seiner Troika ins beste Licht, wenn er sagt, ihrem „humanistischen Marxismus“ fühle er sich verpflichtet. Familiäre Bande gehen Markus Wolf über alles: „In meinem Wesen bin ich mit ihnen austauschbar.“ Gespreiztes Pathos scheint eine Spezialität des Geheimdienstlers im Schriftstellerrock zu sein.

Wolf, der Meisterspion, der in die Kälte ging, schickt in seiner besten Zeit als Geheimdienstchef den damaligen Bundeskanzler Willy Brandt in die Wüste. Seinen letzten Coup landet er mit dem bundesdeutschen Verfassungsschützer Hans-Joachim Tiedge, den er zum Doppelagenten umpolte. Nicht zu vergessen die ungezählten Bonner Sekretärinnen, die sich für ihn nicht nur zu Dienstzeiten in den Ministerialbüros umtrieben. Als oberster Dienstherr von 4.000 Auslandsagenten wirkt er auch kräftig im Binnenverhältnis der DDR mit. Als Stellvertreter von Erich Mielke hat er jahrelang den Repressionsapparat mitverantwortet. Doch davon will er nichts mitbekommen haben. Dem 'Spiegel‘ verrät er, es gebe nichts, dessen er sich schämen brauchte. Bestens ausgebildeter Spitzel, 30 Jahre Chef des Geheimdienstes und nichts mitbekommen?

Der geschichtsträchtige 4. November 1989 belehrt ihn, daß auch er einer Selbsttäuschung erliegen kann. Der mächtige Mann, der Bücher schreibt, in denen er vorsichtig Gorbatschows „neues Denken“ preist, tritt als Redner auf der berühmten Massendemonstration auf dem Alexanderplatz auf. Er kommt kaum zu Wort, die Menschen pfeifen ihn aus. Mit hängendem Kopf geht er vom Podium ab. Die Zeit des gewendeten Generals ist vorbei. Nichts gilt der moderate Sowjetkenner mehr im eigenen Land. Der Kurier vom Dienst sieht, wie seine Landsleute sich dem Klassenfeind zuwenden und setzt sich ab — ihm droht die Untersuchungshaft. Da zieht er es vor, den Ort der Wahrheit zu verlassen.

Zur Präsentation seines Buches in der Sowjetunion sei er nach Moskau gereist, rechtfertigt er sich noch Anfang des Monats. „Ich bin hier zu Besuch bei Verwandten.“ Wie sagte doch Michail Gorbatschow: Die halbe Wahrheit ist schlimmer als die Lüge. Annette Rogalla