Rotkäppchen's Feuertanz

■ Heute: Die "Titanic" in der Winsstraße in Pankow

Mitunter lassen sich Trends im Trinkverhalten einer Nation an den Formen der abgefüllten Biergläser erkennen. Die gefürchtete Halbliterblumenvase — auch scherzhaft »Pissröhrchen« genannt — stand für die proletarische Denunziantenecke am sozialistischen Stammtisch in der nächsten Eckkneipe. Gut gelitten in allen HO-Gaststätten waren auch die hiebfesten Preßglas-Seidel mit den angeknabberten Rändern; das Bier in ihnen durfte bescheiden auf jede Art von Blume verzichten und sah schon knapp nach dem Abfüllen so magenschonend aus wie Blasentee.

Die Titanic in der Winsstraße weiß, welche Gläser dem gehobenen Ambiente und seinem Trinkverhalten angemessen sein sollten. Gut passen die herb-wuchtigen prismischen Glaskanten zu den Holztischen, dem Podest, seiner Reling und dem melancholischen Riesenrotor an der Zimmerdecke, gut passen sie zu dem gekippten Wandspiegel, den obszön bemalten Stuhllehnen, dem antiken Tresen und der langen Theke.

»Wir tauchen auf« — so klopfte man sich selbstbewußt auf den Bauch des Wirtes, putzte noch am Eröffnungsabend die properen Lüftungsrohre dicht unter der Decke, lud zum Freibier, heizte den Kessel zum Kampf um das Blaue Band der Trinkersympathie und handelte dem zahlreich erschienenen Premierenpublikum zumindest eine verhalten-geschürzte AHA-Lippe ab. Volle Pulle müssen die Stewards dieses Dampfers, in eher schmuddeliger Nachbarschaft, fahren: von morgens um 9 bis nachts gegen 4; keine Gnade wird es bei Decksüberflutungen, Schlagseite und Nachtnebel geben. Eisblöcke sind zwar noch nicht in Sicht, aber in Ostberlin sind in Vergangenheit schon wiederholt diverse Rudermannschaften der Gastronomie auf halber Strecke spurlos verschwunden oder haben sich in dunkler Nacht den Rumpf an ihrer eigenen lässigen Freizeitmentalität aufgeschlitzt. Aber da nicht nur das Trinkverhalten in Ostberlin sein hastiges Haudrauf abgehobelt hat, sondern auch die Kneipen schon mal ein paar Mark mehr in Decksbeleuchtung und Maschinenraum investieren, gibt die Jury des Blauen Bandes der Titanic — zumindest in der jetzigen Ausgabe — gute Chancen, um über den Großen Teich zu kommen.

Die Messe (für Offiziere und Mannschaften) wird von der Kombüse in der Regel mit mediterraner Küche beliefert: die provenzialische Kartoffel darf ebenso wie die Schweizer Bratkartoffel ihre Schale behalten, ist mit frischen Kräutern und Schinken dennoch eine gute Kost zum Tanztee auf dem Achterdeck. Etwas edler ist das Crème soirbás, das aus püriertem Paprika, Pinien- und Pistazienkernen besteht und den die Küche mit kochbuchgerechtem Anstand unter die Passagiere bekommt. Nun, und wem soviel maritimes Gelaber zu lästig wird, der haut sich einfach ein Jever ins Speigatt und jammert gegen den Wind. Jau! Volker Handloik