Man beginnt sich zu mögen

■ Nach einem halben Jahr Parlamentsarbeit bilden Bündnis 90 und Grüne noch immer zwei Gruppen in einer Fraktion/ Die Ost/West-Liaison gestaltet sich schwierig/ Alle sind hochsensibel geworden

Berlin. Zwei Abende lang durchforsteten die Abgeordneten ihre Vergangenheit und gewannen erstaunliche Einblicke. Zu später Stunde schwelgten die Grünen-Fraktionäre aus dem Westen in ihren Sponti- und K-Gruppen-Erinnerungen und vertieften sich mit wachsender Begeisterung erneut in den 18. Brumaire des Louis Bonaparte. Sehr zur Verwunderung ihrer Bündnis-90- Partner, denn denen war kaum faßbar, daß da jemand freiwillig und mit Freuden den Lernstoff verschlungen hat, der Rüstzeug der von ihnen bezwungenen Staatsdoktrin war. Kamen hingegen die Ost-Parlamentarier ihrerseits auf frühere Aktivitäten in kirchlichen Basisgruppen zu sprechen, erschnupperte mancher West- Kollege den Mief des eigenen Konfirmandenunterrichts.

Ein Wochenende hatte sich die Fraktion von Bündnis 90/Grüne Anfang September ins Brandenburgische zurückgezogen um Bilanz zu ziehen und Perspektiven zu planen. Nicht nur Hochpolitisches stand im Mittelpunkt, es wurden auch die ost- westlichen Gefühlslagen ausgelotet. Denn seit einem halben Jahr wächst da zusammen, was noch immer nicht so recht weiß, ob es tatsächlich zusammengehört.

Die Vorsitzende Renate Künast, sieht ihre Fraktion in einer Vorreiterrolle, denn wenn es Berlin nicht schaffe, wie solle man dann Düsseldorf und Dresden zusammenbringen? Sie hält das vorläufige Ergebnis des fraktionellen Vereinigungsprozesses für durchaus vorzeigbar, auch wenn der Umgang mit den Ostlern nicht immer einfach gewesen sei. »Da mußte man sich immer in Frage stellen«, worunter auch die Effizienz der Arbeit gelitten habe. Überwiegend zufrieden ist auch ihr Stellvertreter, der Ostberliner Bauingenieuer Uwe Lehmann. Die gemeinsame Fraktion habe sich bewährt, das Bemühen aufeinander zuzugehen sei vorhanden.

Das war nicht von Anfang an so. Die alternative Ost/West-Liaison hatte einen denkbar schwierigen Start: Nach den Wahlen im Dezember versuchte jede der beteiligten Gruppierungen ihre Claims abzustecken. Im Laufe von der zähen Verhandlungen spaltete sich das Neue Forum ab, der Rest des Bündnis 90, die Grünen und der Unabhängige Frauenverband (UFV) bildeten eine Fraktion. Auch dort wurde erstmal weniger das Verbindende gesucht als vielmehr das Trennende ausgelotet. So wurde in der Fraktionsvereinbarung festgelegt, daß beide Partner »autonom« nebeneinander bestehen und daß »Entscheidungen, die einen nur für die Ost-Bezirke relevanten Sachverhalt bzw. die DDR-Vergangenheit betreffen, die Mehrheit der vertretenen Ex-Ossis zustimmen« muß. Gleiches Recht wurde im Gegenzug den Wessis zugestanden. Bislang machte noch keine Seite von dieser Möglichkeit Gebrauch, auch nicht bei so originären »Ost-Themen« wie der Bewältigung der Stasi-Vergangenheit.

Zwar hätten, nach Einschätzung von Uwe Lehmann, die Ost-Abgeordneten aufgrund eigenen Erlebens gerade zu diesem Komplex eine Menge beizusteuern, doch dominierten bei der parlamentarischen Bewältigung eindeutig die Grünen, da sie über das größere rechtliche und verwaltungstechnische Know- how verfügten. Versuche, die Ost- Parlamentarier fraktionsübergreifend an einen Tisch zu bringen, gar einen runden Tisch zu etablieren, sind bislang gänzlich gescheitert. Renate Künast hält ein solches Unterfangen auch für müßig, denn »hier funktioniert alles nach Fraktionsdisziplin« — womit sie den ersten parlamentarischen Lehrsatz den Ost-Kollegen ins Stammbuch schreibt.

Die zweite wichtige Erkenntnis, die die Ostler nach einem halben Jahr Arbeit im Rathaus Schöneberg mit nach Hause nehmen, nennt die Abgeordnete Sybill Klotz »das Pressesyndrom«. Bestimmte Dinge sind nur dann wirklich passiert, so die Wahrnehmung der UFV-Politikerin, wenn sie in den Medien auftauchen. Weshalb, nach ihrer Einschätzung, so mancher ihrer Westkollegen ganz unglücklich dreinschaut, wenn er seinen Namen in den Zeitungen nicht häufig genug erwähnt findet. Für Sybill Klotz ist das nicht nur typisch westlich, sondern auch typisch männlich, wie das ganze »Politikmuster« in den Rathäusern. Da wird wie selbstverständlich von einem 16stündigen Arbeitstag ausgegangen. Die Frauen aus dem Osten könnten da nicht mithalten, nicht nur, weil man es aus DDR-Zeiten gewohnt ist, daß »nach acht Stunden der Hammer fällt«, sondern weil — viel häufiger als im Westen — Kinder daheim zu versorgen sind. Ihren Geschlechtsgenossinnen aus dem Westen hält die Abgeordnete vor, daß sie bewußt wegen ihrer Karriere auf Kinder verzichten.

Bei allen Unterschieden der Biographien und Befindlichkeiten, allen Verständigungsschwierigkeiten und Konkurrenzgefühlen: Bei den politischen Inhalten herrscht seltene Einmütigkeit — allerdings auf West-Niveau. Ob Wohnungsbau oder Olympia, ob innere Sicherheit oder städtebaulicher Wettbewerb, »thematisch wird«, so Uwe Lehmann, »westberliner Politik gemacht«. Doch das empfindet er nicht als den großen Mangel.

Sybille Klotz sieht sich mit ihren feministischen Positionen bei den West-Kollegen eh manchmal besser aufgehoben als bei den Ost-Genossen. Nach ihrer Einschätzung kommt es jetzt eher darauf an, offensiver zu werden und die politischen Handlungsmöglichkeiten eines Abgeordneten stärker zu nutzen. Dieter Rulff