DEBATTE
: Neue Politik oder alte Allianzen?

■ Der deutschen Außenpolitik fehlt die moralische Substanz

Gespenster gibt es im Augenblick viele, die in Europa umherspuken. Manche machen Angst, andere, wie der Kommunismus, sind eher zu bedauernswerten Phantasmen geworden. Zu denen, die Angst machen, gehört ohne Zweifel der Nationalismus — und mit ihm das Wiedererstehen der alten Allianzen.

Die Furcht vor den alten Allianzen geht in Europa auch gegenüber dem wiedervereinigten Deutschland um. Die Serben, die natürlich Wasser auf die Mühlen ihrer Vormachtinteressen im Balkan lenken wollen, sehen das alte Bündnis Deutschlands mit Kroatien wiedererstehen und prangern auch deshalb die deutsche (und österreichische) Außenpolitik so vehement an. Die Franzosen sorgen sich — halblaut — wegen der Neuauflage einer deutsch- russischen Achse. Und die Holländer kritisieren laut, die Deutschen würden sich nicht mehr den stillschweigenden Agreements der EG- Außenpolitik verpflichtet fühlen, sondern Politik auf eigene Faust machen. Bei den Amerikanern und Engländern gibt es leisen Zweifel an der Bündnistreue, ob da nicht vielleicht doch deutsche Sonderweginteressen im Spiel sind: Stichwort Genscherismus. Kein Zweifel: Im Jahr eins nach dem Ende der Blockkonfrontation sind der deutschen Außenpolitik die Koordinaten abhanden gekommen, seit der Krise am Golf „schwimmt“ sie bedenklich.

„Ostpolitik“ war strukturell prinzipienlos

1956 konnten die ungarischen Demokraten noch glauben, ihre Revolution gegen die kommunistische Diktatur und für die Freiheit werde vom Westen unterstützt. Sie nahmen die Strategie des Kalten Krieges und deren moralischen Kern ernst, daß nämlich die USA die Menschenrechtsverletzungen im Ostblock nicht einfach hinnehmen wollten. Als keine Hilfe kam, war klar, daß das Prinzip der universalen Geltung der Menschenrechte, auf das sich doch die Alliierten im 2. Weltkrieg gegen das nationalsozialistische Deutschland berufen hatten, erneut aus der Politik verbannt worden war. Die USA gossen dieses Scheitern eines moralischen Anspruchs in die Form der sogenannten Kissinger- Doktrin, die Deutschen mit Willy Brandt in die durch die Ostverträge eingeleitete „Ostpolitik“; ein Wort, das in fast alle Sprachen Europas Einzug gehalten hat. Ein „Wandel“ sollte durch „Annäherung“ bewerkstelligt werden.

Daß die Anpassung an die Mächtigen dabei besonders in Deutschland oftmals auch minimale moralische Maßstäbe außer acht ließ, ist nicht erst seit dem Fall der Mauer deutlich. Offen opportunistisch war bereits Helmut Schmidts Begrüßung von Jaruzelskis Militärputsch im Sommer 1980. Im Windschatten der zweigeteilten Welt, der eingeschränkten Gültigkeit der Menschenrechte und des damit verbundenen machttaktischen Zynismus brauchte die BRD keine Verantwortung zu übernehmen. Und kaum jemand forderte von ihr eine Rechtfertigung dafür. Erst der Krieg zur Befreiung Kuwaits hat das geändert.

Während die USA nach dem Zusammenbruch des Ostblocks erstaunlich schnell die Chance erkannten und zu den ursprünglichen Prämissen ihrer Außenpolitik zurückfanden, nicht zuletzt auch deshalb, weil der 4. Juli und die Deklaration der Menschenrechte eine Tradition sind, auf die man sich mit gutem Gewissen berufen kann, erweisen sich die strukturelle Prinzipienlosigkeit der Tradition der Ostpolitik und der nationale Wiedervereinigungsegoismus der Bundesrepublik als fatal. Abgesehen von den Problemen, die die Vereinigung der beiden deutschen Staaten begleiten, erweckt die deutsche Außenpolitik den Eindruck, als habe die Wiedervereinigung Deutschland nicht ein Mehr an historischer Verantwortung und Sensibilität der eigenen — und meist schlechten — Tradition gegenüber aufgegeben, sondern wie durch ein Wunder alles weiß gewaschen. Emblematisch ist das Verhalten Außenminister Genschers, der sich in leerem Protagonismus versucht, gestern noch die Einheit Jugoslawiens propagiert und heute mit der völkerrechtlichen Anerkennung Jugoslawiens im Alleingang droht. Das aber ist, aus deutschem Munde, unverantwortliches und hohles Gerede, denn jedermann weiß, daß die Bundesrepublik aus historischen und psychologischen Gründen der konkreten Geschichte auf dem Balkan diese Anerkennung niemals wirklich würde garantieren können. Denn das müßte im Ernstfall auch den Einsatz militärischer Mittel einschließen. Genschers vorlautes Agieren verhindert eher eine sinnvolle Intervention der EG. Denn selbst gesetzt den Fall, die völkerrechtliche Anerkennung Kroatiens könnte den serbischen Vormarsch stoppen, so ist der Vorschlag aus deutschem Munde kontraproduktiv — er erhöht die Schwelle des Mißtrauens. Merkwürdig andererseits die Zurückhaltung Genschers gegenüber Litauen, das seine Naziverbrecher rehabilitiert, und gegenüber den Versuchen aller drei Baltenstaaten, ihre russischen und polnischen Minderheiten zu diskriminieren oder gar auszubürgern.

Noch ist die Debatte um die „Nationwerdung“ der Deutschen ausschließlich nach innen gerichtet. Dem einen ist die Nation der Königsweg, der Spießigkeit zu entrinnen (Bohrer), dem anderen dient die Erwägung nationaler Sonderwege als Hebel, einen neuen ideologischen Focus für die vergrößerte Bundesrepublik zu finden und deren „innere Zerrissenheit zu überwinden“ (Fichter, Hartung u. a.). Was aber diese Deutschen nicht sehen oder sagen: nationale demokratische Sonderwege gibt es nicht. Es gibt nur Demokratie oder eben keine. Und wenn die „nationalen Diskutanten“ klagen, die Alt-Bundesbürger würden „einfach so weitermachen wie bisher“, so bezeichnen sie präzise, wogegen ihr Argumentieren sich richtet: Es ist eine durch und durch demokratische Tugend, wenn sich die Alt-Bundesbürger nicht verrückt machen lassen durch den Anspruch, der an sie herangetragen wird. In der Rede von der Nation steckt die unerträgliche Zumutung, völkische Bande könnten irgend etwas legitimieren, was mit der Demokratie in einem politischen Gemeinwesen zu tun hat. Wer mit wem wie in einem Gemeinwesen zusammenleben will, hat jedoch ausschließlich mit dem Willen des einzelnen zu tun, nicht mit seiner Volkszugehörigkeit. Daß die Alt-Bundesbürger auf solcherlei Zumutungen aus den neuen Bundesländern nicht eingehen, beweist, daß sich der — wenn man so will — Vertragsstaat Bundesrepublik Deutschland, auch wenn seine Garanten die Alliierten und nicht die Deutschen selber waren, emanzipiert hat von der Idee der Schicksalsgemeinschaft. Trotz aller rückwärtsgewandten Reden in Feuilletons und Zeitschriften, werden am Ende auch die ehemaligen DDR- Bürger lernen, sich als Partner in einer Demokratie anzubieten — und nicht als fordernde Angehörige einer Volksgemeinschaft.

Menschenrechte als universale Maxime

Es entbehrt nicht einer gewissen Logik, wenn Deutschland nur innenpolitisch über sich diskutiert. Den einen fehlt — noch? — der Mut, sich zur großen Nation alten Stils zu bekennen, die anderen drücken sich mit Hinweis auf die deutsche Geschichte davor, Verantwortung im Sinne der Menschenrechte zu übernehmen. Insofern verdienen wir einen Außenminister wie Genscher. Aber heute ist die Beschaulichkeit der bipolaren Welt — und mit ihr der moralfreien Außenpolitik — dahin. Bündnisse und wirtschaftliche Hilfe unterliegen nicht mehr der Blocktaktik, sondern müssen sich an der Elle politisch-demokratischer Wertsetzungen messen lassen. Es gibt keine anderen als die universaler Menschenrechte, als „life, liberty and pursuit of happiness“, wie es in der Unabhängigkeitserklärung der USA heißt. „Selbstbestimmung der Völker“ für sich genommen, ist demgegenüber absolut leer. Darin sollte die deutsche Politik eine Allianz mit dem Partner jenseits des Atlantik eingehen. Die strukturelle Prinzipienlosigkeit aus den Zeiten der „Ostpolitik“ ist heute ein untaugliches Instrument. Sie ist in der — seit den Augusttagen 91 definitiv — gewandelten Welt nichts weiter als die Fortführung der alten, zynischen und undemokratischen Traditionen nationaler deutscher Diplomatie, wie wir sie kennen seit den Tagen eines Bismarck. Und als die Kehrseite jener unzeitgemäßen Diskussionen, die heute noch den mündigen Bürgern der Alt-BRD soufflieren möchte, preußische Glorie stünde dem — fantasierten — Weltgeist näher als „Hamburger“ oder Coca-Cola. Ulrich Hausmann