In Abu Samirs Haus wohnen Soldaten

Israelische Siedlungspolitik in Jerusalem vertreibt immer mehr Palästinenser/ Neubauprogramme werden trotz internationaler Proteste beschleunigt/ Jüdische Häuser in Ostjerusalem gleichen kleinen Festungen  ■ VON NINA CORSTEN

Wer in Jerusalem lebt, muß sich für eine Seite entscheiden: Für den Osten oder den Westen der Stadt. Niemand lebt einfach „in Jerusalem“. Wer sich zwischen beiden Teilen der Stadt bewegen muß, hat mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Auch Fremden ist das nach wenigen Tagen klar.

Sogar die Uhren gehen seit zwei Wochen anders: Während die Palästinenser nach Sommerzeit rechnen, drehten die Israelis bereits Anfang September die Zeiger um eine Stunde auf Winterzeit zurück — eine von vielen Konzessionen der israelischen Regierung an die orthodoxen jüdischen Gruppierungen, die gegen den energiesparenden Eingriff der Obrigkeit in die Zeitrechnung grundsätzliche Bedenken geltend machen. Der Kompromiß: Im September, dem Monat der höchsten jüdischen und israelischen Feiertage Jom-Kippur, Neujahr und Laubhüttenfest wird zur „richtigen“ Zeitrechnung zurückgekehrt.

Ein israelischer Intellektueller rechnete ganz trocken vor, wieviel Strom Israel einsparen würde, wenn die religiösen Parteien die Regierungskoalition verlassen würden. Und die doppelte Zeitrechnung macht auch Verabredungen kompliziert. Wer nicht genau aufpaßt, kommt unweigerlich eine Stunde zu früh oder zu spät. Es reicht nicht aus, bei der Bestimmung der Zeit darauf zu achten, ob man mit einem Palästinenser oder einem Israeli verabredet ist. Zum Treffen mit einem palästinensischen Mitarbeiter der UNO erscheine ich eine Stunde zu früh. Es ist ihm sichtlich unangenehm, erklären zu müssen, warum er seinen Terminplan nicht nach „Palestinian time“ führt.

„Niemand steigt hier aus“

Der Umgang der Stadtbewohner mit anderen Besonderheiten des dualen Lebens ist routinierter. Fremde tun gut daran, die Regeln schnell zu lernen: vor allem die Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel. Ins Westjerusalemer Verkehrssystem sind nämlich Teile des Ostens integriert: der Siedlungsgürtel, den die israelischen Behörden seit 1967 um die palästinensische Jerusalemer Altstadt und angrenzende arabische Vororte und Dörfer haben errichten lassen. Welcher Bus der richtige ist, entscheidet sich danach, ob man zu einer palästinensischen oder zu einer israelischen Adresse möchte. Sonst bringt einen der Westjerusalemer Bus ganz nah an den Ort, wo man hin wollte. Aber der Busfahrer hält nicht an: „Hier wollen Sie aussteigen? Das ist zu gefährlich. Niemand steigt hier aus.“ Und schon sind wir an der immerhin vorhandenen Haltestelle vorbei.

Aussteigen kann ich erst viel weiter östlich, an der Hauptstraße, die durch die Westbank Richtung Jericho führt. Von hier aus fährt der Bus weiter in die „jüdischen Siedlungen“, die während der letzten Jahre in großer Zahl auf den umliegenden Hügeln errichtet wurden. Sie liegen außerhalb des von Israel annektierten Gebietes von Ostjerusalem, im bislang lediglich besetzten Teil der Westbank, werden jedoch von Jerusalem verwaltet. Dieser Umstand wird als schleichende Annektion weiterer Teile der Westbank interpretiert. Wenn von „Großjerusalem“ die Rede ist, sind auch diese Vorstädte im besetzten Gebiet gemeint.

Das Land, auf dem diese ausschließlich von jüdischen Israelis bewohnten Siedlungen stehen, wurde seit 1967 durch die israelischen Besatzungsbehörden enteignet. Von 1967 an stand die Westbank mit Ostjerusalem unter jordanischer Herrschaft. Das enteignete Land war überwiegend Staatsland nach altem osmanischen Recht. Ein Großteil wurde von den palästinensischen Dörfern als Gemeindeland genutzt. Das übrige war im privaten Besitz palästinensischer Eigentümer, vor allem von Bauern. Seit 1967 wird der Boden systematisch umverteilt: Er wird der palästinensischen Bevölkerung weitgehend entzogen und insbesondere durch Wohnungsbau der ausschließlichen Nutzung durch „einwandernde“ Israelis zugeführt. Zwar gibt es keine Bestimmungen, die den Zuzug von Palästinensern in die neugegründeten Siedlungen untersagen, doch werden die Wohnungen für andere gebaut. Der israelische Wohnungsbauminister Ariel Scharon kündigte kürzlich an, die Regierung plane, „die jüdische Bevölkerung von Großjerusalem in den nächsten Jahren auf eine Million zu erhöhen“. Gegenwärtig hat Großjerusalem etwa 360.000 jüdische und 140.000 palästinensische Einwohner.

Wohnungsbau für Palästinenser gekürzt

Im ersten Halbjahr 1990 genehmigte die Jerusalemer Stadtverwaltung den Neubau von sechs neuen „jüdischen Vierteln“ in Ostjerusalem. 16.000 Wohnungen für 56.000 sowjetische Einwanderer sollen entstehen. Kurz zuvor, Ende 1989, hatte der „Berater für Ostjerusalemer Angelegenheiten“, Amir Cheshin, dringend empfohlen, in den palästinensischen Vierteln Su'fat und Beit Hanina den Bau von 17.000 Wohnungen zu genehmigen, da die Wohnungsnot unter den Palästinensern in Ostjerusalem drastisch zugenommen habe. Das Innenministerium und das Ministerium für Wohnungsbau intervenierten und strichen den Plan auf 7.000 Wohnungen zusammen.

Ostjerusalem und etliche seiner nördlichen und südlichen Nachbargemeinden sind der Teil der Westbank, der 1967 von Israel nicht nur militärisch erobert, sondern anschließend auch annektiert wurde.

Schon wenige Monate nach Einstellung der Kämpfe begann die Enteignung palästinensischer Haus- und Grundbesitzer. Über das Eigentum von Palästinensern, die während des Krieges geflüchtet oder zufällig außer Landes waren, verfügten die israelischen Behörden von vornherein als „Absentee's Property“ — Eigentum Abwesender. Das begann mit der Vertreibung der arabischen Bewohner des alten „jüdischen Viertels“ in der Ostjerusalemer Altstadt, das anschließend abgerissen wurde. An seiner Stelle ließ die eigens gegründete israelische „Organisation für die Entwicklung des jüdischen Viertels“ ein neues Viertel errichten. Im gleichen Jahr, sagt ein früher dort lebender Palästinenser, wurden auch 24 Häuser des angrenzenden Magharbe-Viertels zerstört, über 100 arabische Familien mußten ihre Wohnungen räumen. Seine Familie war 1948 während des ersten israelisch-arabischen Krieges vor der israelischen Armee aus Akko an der Mittelmeerküste nach Ostjerusalem geflüchtet. Sie waren in einem jener Häuser untergekommen, die vor 1948 von palästinensischen Juden bewohnt waren. Die gesamte alte jüdische Gemeinde Ostjerusalems hatte 1948 ebenfalls flüchten müssen, auf die andere, die israelische Seite.

Scheinwerfer, Fahnen und Soldaten

Eine der palästinensischen Familien, die das alte jüdische Viertel in Ostjerusalem 1967 verlassen mußten, wandte sich hilfesuchend an das oberste israelische Gericht, um die „Organisation für die Entwicklung des jüdischen Viertels“ wegen Diskriminierung zu verklagen. Die Klage wurde abgewiesen. Begründung: In Anbetracht der Vertreibung der Ostjerusalemer Juden durch die jordanischen Behörden im Jahre 1948, könne der Umstand, daß man die Kläger als Nichtjuden nun ebenfalls zum Verlassen des Viertels zwinge, nicht als Diskriminierung bewertet werden.

Heute sind die Spuren der israelischen Verdrängungspolitik auch im „moslemischen Viertel der Ostjerusalemer Altstadt allenthalben zu erkennen. Siebzig jüdisch-israelische Siedlerfamilien leben mittlerweile dort. Die betreffenden Häuser wurden renoviert, vor allem wurden stabile Fenster und Türen eingebaut. Von den Dächern wehen israelische Flaggen. Die Häuser mit den auf die Dächer montierten Scheinwerfern wirken wie kleine Festungen. Am bekanntesten ist das Haus, das Wohnungsbauminister Scharon demonstrativ bezogen hat und das Tag und Nacht bewacht wird. Fünf radikale Siedlergruppen haben Religionsschulen, sogenannten Jeschiwa, in der Altstadt eingerichtet.

In der arabischen Nachbarschaft solcher Einrichtungen geht die Angst um. „Oft kommen nachts die Soldaten. Manchmal versuchen sie, in unsere Häuser einzudringen. Wenn wir uns wehren, nehmen sie uns fest.“ Auseinandersetzungen zwischen israelischen Soldaten und palästinensischen Bewohnern der Altstadt wurden bereits wiederholt zum Anlaß genommen, Leute aus ihren Wohnungen zu vertreiben und die Häuser zu enteignen.

Die Enteignung palästinensischen Bodens außerhalb der Ostjerusalemer Altstadt, im übrigen annektierten Stadtgebiet also, begann etwa ein Jahr nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967. Die ersten beiden Siedlungen wurden unmittelbar an der alten jordanisch-israelischen Waffenstillstandslinie, der sogenannten „Grünen Linie“ im Nordwesten der Altstadt gebaut: French Hill und Ramot Eshkol. 1970 begannen die israelischen Behörden mit dem Bau vier weiterer Siedlungen: Ramot, Ost- Talpiot, Gilo und Neve Yakov. Mit Ausnahme von Neve Yakow dienten auch sie der räumlichen Anbindung des annektierten Ostjerusalems an das israelische Staatsgebiet. Neve Yakov war die erste Siedlung an der „Ostgrenze“ des annektierten Ostjerusalemer Stadtgebietes.

1980 konfiszierte man südlich davon weiteres Land für den Bau von Pisgat Ze'ev. Damit hatte die Errichtung eines Siedlungsgürtels im arabischen Teil von Ostjerusalem begonnen, der die „jüdischen Vororte“ im Norden und Nordwesten der Stadt mit dem östlich gelegenen Mount Scopus verbinden soll, auf dem ein Teil der Hebräischen Universität steht. Die Landkonfiszierungen für den Bau von Neve Yakov und Pisgat Ze'ev erfolgten seinerzeit gegen das Votum der Jerusalemer Stadtregierung. Bei beiden trugen höchste Stellen der israelischen Regierung die Entscheidungen. Sie war zunächst durch den nach einem früheren US- Außenminister benannten „Roger- Plan“ und danach durch die Verabschiedung der UN-Resolution 242 unter politischen Druck geraten. Die Siedlungsgründungen sollten territoriale Fakten schaffen.

Passierscheine vom Norden in den Süden

Das jetzige Vorgehen der israelischen Regierung gleicht dieser Politik. Schon Anfang der achtziger Jahre haben die israelischen Besatzungsbehörden damit begonnen, ganze Landstriche östlich des annektierten Gebietes als Bauerwartungsland für zukünftige Seidlungen ausweisen. Die Gebiete sind — auch nach dem Verständnis der israelischen Regierung — besetztes Gebiet. Sie sind so gelegen, daß sie stadtplanerisch direkt an das annektierte Ostjerusalem angeschlossen werden können. Seit dem Beginn der Verhandlungen über eine Nahostkonferenz haben Tempo und Umfang von Landenteignungen und Baumaßnahmen erheblich zugenommen. Hier soll ein breiter Siedlungskorridor entstehen, der das israelische Staatsgebiet fest mit dem an der Ostseite der Westbank gelegenen Jordangraben verbindet. Das Westufer des Jordan wurde von den Besatzungsbehörden mit Ausnahme einiger kleiner Enklaven längst zu „israelischem Staatsland“, „geschlossenem Gebiet“ oder zu „Militärgebiet“ erklärt, und damit der Kontrolle durch die palästinensische Bevölkerung in der Westbank entzogen. Damit wird das Muster einer Lösung der „Palästinafrage“ deutlich, mit dem auch politische Hardliner im Likud und in der Siedlerbewegung würden leben können: Zwei palästinensische Enklaven, eine im Norden, eine im Süden der Westbank. Verräterisch ist in diesem Zusammenhang auch eine neue Order, die die israelischen Militärbehörden nach Aufhebung der 45tägigen Ausgangssperre während des Golfkrieges in der Westbank erlassen haben: Palästinenser brauchen einen Passierschein, wenn sie die „grüne“ Linie nach Israel überschreiten wollen. Da der Großraum Jerusalem als israelisches Staatsgebiet erachtet wird, brauchen sie jetzt auch eine Genehmigung, wenn sie vom Norden der Westbank in den Süden wollen. Die Westbank ist damit in zwei Teile geteilt worden.

Eine der ganz großen Siedlungen, die als Vorstadt von Großjerusalem Richtung Jericho in der Westbank errichtet wurde, ist Ma'aleh Adumim. „Als Yossie und Ettie 1980 geheiratet hatten, wollten sie gerne nach Jerusalem ziehen, konnten es sich aber nicht leisten. Stattdessen zogen sie in eine Wohnung in Ma'aleh Adumim, einem größer werdenden Tupfer auf der Landkarte, nur sieben Kilometer und zehn Autominuten vom Nordosten Jerusalems entfernt.“ So beginnt ein Artikel in der Tageszeitung 'Jerusalem Post‘. „Jetzt haben Yossie und Elie ein Heim, das Sie Ihr eigen nennen können und drei Kinder“, geht es im Plauderton weiter. Sie brauchen eine größere Wohnung, aber in Adumim können sie trotzdem bleiben. Die erforderliche neue Behausung, so erfährt man später, etwa eine Fünf-Zimmer-Eigentumswohnung mit 200 Quadratmeter Garten, kostet den Spottpreis von 110.000 Dollar. Damit ist die Siedlungspolitik beschrieben: Die Israelis, die in diese Gebiete ziehen, kommen, weil sie die Wohnungen in Israel nicht mehr bezahlen können.

Soldaten ließen Olivenbäume fällen

Auch der Palästinenser Abu Samir hat „ein Heim, das er sein eigen nennt“. Er weiß nur nicht, wie lange noch. Es liegt in Beit Idschza in der Westbank. Sein Pech, daß nach dem Willen einer Gruppe von Siedlern dort bald andere Menschen leben sollen. Eine Ausweitung der beiden nördlich von Abu Samirs Dorf gelegenen „jüdischen Siedlungen“, Giv'at Ze'ev und Giv'on Hahadasha, ist seit längerem geplant und darum wurde ein großes Stück Land zu israelischem „Staatsland“ erklärt. Auf diesem Land steht sein Haus.

Abu Samirs Unglück begann Anfang der achtziger Jahre, als sich eine Gruppe von Siedlern auf seinem Land niederließ. Abu Samir wehrte sich, stritt mit den Siedlern und untersagte ihnen den Zutritt zu seinem Boden. Er konnte sogar eine Gerichtsentscheidung gegen sie erwirken. Doch die Siedler beeindruckte das nicht. Eines Tages fingen sie an, Stacheldraht um sein Grundstück zu ziehen. Mit Hilfe seiner Söhne entfernte er des Nachts immer wieder die Pfosten, so daß der martialische Zaun zusammenbrach. Unterdessen war sein Land aber zu „Staatsland“ erklärt worden. Die Siedler riefen die Armee und Abu Samir wurde festgenommen, insgesamt mehr als zwanzigmal. 1990 wurde Abu Samir zum ersten Mal vor Gericht gebracht und zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Als er frei kam, fand er seine Familie nicht mehr im Hause vor. Stattdessen wohnten dort Soldaten. Sie hatten seine Familie vor die Tür gesetzt und alle Olivenbäume abholzen lassen. Es gelang ihm mit Hilfe eines Anwalts, einen erneuten Gerichtsbeschluß zu erwirken, der ihm erlaubte, wieder in sein Haus zurückzukehren. Doch die Siedler hatten unterdessen einen gut drei Meter hohen Stacheldrahtzaun um sein Grundstück gezogen. Von der Straße ist die Tür nur durch einen schmalen Korridor zu erreichen. Die Enteignung seines Landes hat Abu Samir vor Gericht anzufechten versucht, doch vergeblich. Seine Besitzurkunden, die vor 1967 von den jordanischen Behörden ausgestellt wurden, wollen die Gerichte nicht anerkennen. Eines hat ihn bislang davor bewahrt, daß ihm auch sein Haus abgenommen wird: Die Baugenehmigung für das relativ neue Haus erhielt er von den Besatzungsbehörden. Vor Gericht hat Abu Samir mit seinem Anwalt die Frage aufgeworfen, wieso ihm die Behörden die Genehmigung zum Bauen auf einem Grundstück erteilen konnten, das ihm gar nicht gehört.

Für Menschen in solchen Lagen, ist es unerheblich, ob sie wie Yossie und Ettie aus der Sowjetunion kommen oder aus Äthiopien oder ob sie in Israel zur Welt gekommen sind. Die wiederholten Warnungen der USA an die israelische Regierung, in den besetzten Gebieten keine Einwanderer aus der Sowjetunion anzusiedeln, geht an der Wirklichkeit ebenso vorbei wie der Disput über die Verwendung der amerikanischen Kredite. Leute mit ähnlichen Erfahrungen wie Abu Samir gibt es in den besetzten und annektierten Gebieten zu Tausenden.