Wie Malen nach Zahlen

■ Iannis Xenakis, Komponist, über neueste Musik und Mathematik / Heute Konzert

Iannis Xenakis in BremenFoto: Tristan Vankann

Iannis Xenakis (69) ist einer der einfallsreichsten Köpfe der Neueren Musik. Immerzu bastelt er an neuen Techniken des Komponierens. Mit Vorliebe verwendet er dazu Formeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung, der Spieltheorie oder auch der Mengenlehre. Xenakis, der Mathematiker, Architekt und Komponist, ist heute abend in der Kunsthalle dabei, wenn ab 20 Uhr sechs seiner Werke aufgeführt werden. Die taz sprach vorab mit ihm über die Welt der Zahlen in der Musik.

taz: Sie konstruieren aus Formeln Musik. Ist das nicht ein bißchen wie Malen nach Zahlen?

Iannis Xenakis: Durchaus. Wir sind doch umgeben von Zahlen aller Art. Seit Pythagoras entdeckt die Menschheit das ganz allmählich. Seit 2500 Jahren. Wir Künstler verwenden selbstverständlich dieses Wissen.

Landläufig empfindet man Mathematik und Musik als verfeindete Geschwister.

Aber alle Musik beruht doch auf Zahlenverhältnissen. Nehmen Sie die indische Musik mit ihrer Wiederholung von Intervallen, von Halb- und Vierteltönen: Das alles ist zahlenmäßig definiert. Schon allein damit Sie die einfachsten Intervalle überhaupt erfassen und unterscheiden können, muß in Ihrem Kopf eine Art Ma- thematik eingebaut sein. Auf die

hierhin das Foto

von dem alten Mann

selbe Weise müssen Sie selbst mit der kompliziertesten tonalen Musik, etwa einer Brahms-Symphonie, umgehen. Es fehlen uns zwar die rationalen Begriffe dafür, aber wir verstehen, wir erfassen eine solche Symphonie ohne weiteres. Die Künstler vielleicht ein bißchem expliziter als das Publikum. Aber selbst wenn das Publikum die Wolken am Himmel bewundert, betreibt es im Grunde eine komplizierte Mathematik. Es weiß nur nichts davon.

Und wenn Sie komponieren? Ist da das Herumrechnen ein grenzenloses Spiel?

Je nachdem. Als Komponist sind Sie ja der Käpt'n. Bloß nicht von einem Schiff, sondern von etwas weitaus Komplizierterem, sagen wir: von einer Mondrakete. Von Ihnen hängt's ab, welche Planeten, welche Galaxien sie erreichen, wie weit Sie kommen, was Sie mitbringen. Scheitern inbegriffen.

Nun gibt es die alte Kritik, diesem Spiel mit abstraktem Material sei der konkrete menschliche Kleinkram egal.

Aber das Material ist doch von Menschen gemacht, nicht von Mäusen und nicht von Maschinen.

Inzwischen ist aber die Grenze zur vollautomatischen Komposition längst überschritten.

Ja. Schon länger, als Sie vielleicht glauben. Mozart hat allerhand melodische Muster verwendet, dazu kommen die Regeln der Polyphonie: Das ist nichts anderes als automatisches Komponieren! Oder der Dacapo- Befehl: Nichts ist automatischer. Im Gegenteil, heute sind unsere Systeme reicher: Alles kann sich ändern in jedem Augenblick. Aber Musik kommt nur raus, wenn ein noch höher organisiertes System drüber steht: der Komponist.

Sie lieben es, statt fester Töne gleitende Höhen zu komponieren, sozusagen Glissando-Wellen. Ist mit der Ton-Skala die letzte Struktur aufgegeben? Gibt es neue Grenzen?

Eigentlich nicht. Bloß wächst der musikalische Raum zu einem Kontinuum zusammen. Darin herrschen bei mir etwa nicht mehr so sehr die einfachen, sozusagen prähistorischen Zahlenverhältnisse, sondern sowas wie Linien, akustische Linien, eine Geometrie der Musik. Zur Zeit beschäftigen wir uns aber mehr mit Klängen, mit Sounds, mit Farben. Da ist alles drin: vom weichen Ton bis zur zerrissenen Percussionsmusik. Selbst die ist ja letztlich Sound, bloß wechselt sie die Zeit! Also: Sie können machen, was Sie wollen. Es muß bloß etwas sein, was wir noch nie gehört haben. Das ist das Schwierigste. Wenigstens zur Zeit.

Sie setzen seit langem Computer für Ihre Arbeit ein, unter anderem das System „Upic“.

Ja, das ist ein Spielzeug für mich. Damit zeichnen Sie direkt am Bildschirm, was Sie hören wollen: Tonverlauf, Klangentwicklung und so weiter. Da können Sie, ohne jedes Wissen, wie man Musik schreibt, jederzeit loskomponieren. Ein guter Musiker müssen Sie natürlich trotzdem sein, sonst nützt es gar nichts.

Was hören wir heute abend?

Ein Duo für Schlagwerk und Cembalo, ein Schlagwerk-Solo und ein paar Stücke, gespielt vom Londoner Arditti-Quartett. Eines der Quartett-Stücke beispielsweise ist ein Spiel mit all den Problemen, die sich ergeben bei der Evolution melodischer Muster undsoweiter. Und es sind Versuche drunter über neuartige Ton- Skalen, über Skalen, die nicht so periodisch aufgebaut sind wie unser Oktaven-System, über Skalen, die ganz neue Zusammenklänge ermöglichen. Fragen und Übersetzung: schak

Heute 20 Uhr, Vortragssaal der Kunsthalle