ENTNERVTE ESTEN, LEBENSMÜDE LITAUER, LUSTIGE LETTEN

Eine erste vergleichende Umfrage zur Gemütslage der baltischen Nationen liegt jetzt vor — leider stammt die Erhebung aus dem Sommer 1990 und ist von der Geschichte längst überholt. Dennoch finden sich einige aufschlußreiche Details über die Seelenlage im Baltikum.

„Auf dem Höhepunkt des Glücks“ und mit dem Eindruck, daß „das Leben wunderbar“ sei, war jeder dritte Lette, aber nur jeder elfte Este. 47,2 Prozent aller Esten war es hingegen schon einmal vorgekommen, daß ihnen „alles über“ war, aber nur 15,8 Prozent der Letten. „Depressiv oder sehr unglücklich waren 30,8 Prozent der Litauer, aber nur 8,7 Prozent der Letten.“

Dies sind einige Ergebnisse der repräsentativen Umfrage zur baltischen Gemütslage, die unter der Leitung der Professoren Hans-Dieter Klingemann vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und seines Kollegen Mikk Titma aus der estnischen Hauptstadt Tallin im Sommer 1990 unter mehr als 3.000 Personen in Estland, Lettland und Litauen veranstaltet wurde. Die beiden Forscher haben sich einen Mitleidsbonus verdient, der gescheiterte Putsch und die mittlerweile erreichte Unabhängigkeit haben ihnen den Gebrauchswert der Arbeit verhagelt: Außer in Fachkreisen dürfte sich kaum noch jemand dafür interessieren, was die drei Bevölkerungen im letzten Jahr über die Rote Armee, Reformen in der Sowjetunion und Wege zur Souveränität gemeint haben.

Dabei war der Ansatz durchaus interessant, denn völlig zu Recht weisen die beiden Forscher darauf hin, daß zwar hierzulande immer vom „Baltikum“ die Rede ist, sich die drei Gesellschaften aber sehr stark voneinander unterscheiden.

Insgesamt, das belegen die jetzt bekanntgegebenen Ergebnisse, zeigten sich die Letten deutlich frischer als ihre Nachbarn im Norden und Süden. Im Vergleich waren mehr für die Unabhängigkeit, für deren kompromißlose Durchsetzung, und sie hatten auch am meisten Vertrauen in ihre eigene Regierung und Mißtrauen gegenüber Moskau und der Roten Armee. Mehr als die EstInnen und LitauerInnen hielten sie die Gesellschaftsordnung (des Sommers 1990) für „prinzipiell falsch“, wollten ein Mehrparteiensystem und Privateigentum, fanden wirtschaftliche Stabilität am wichtigsten und waren überhaupt an Politik am meisten interessiert.

Und offenbar geht's ihnen auch psychisch am besten, wie der Überblick über das Gefühlsleben der Balten zeigt. Fragt sich nur, woran das alles liegt. Das wurde leider vom WZB nicht mitgeteilt. diba