Eine Jugend „auf Abruf“ im Paradies

Auf der Suche nach dem kubanischen Sozialismus — Teil III: Die jungen Arbeitslosen von Baracoa, Kubas ältester Stadt/ Am verlorenen Ostzipfel der Insel, wo 1492 Kolumbus landete, sind heute Havanna und die USA gleichermaßen fern  ■ Aus Baracoa Sascha Adamek

Die Kubaner nennen Baracoa „la ultima“ — die letzte, geographisch gesehen, die östlichste Stadt der Insel. Die Santiagueros an der Bushaltestelle lachen nur, als sie erfahren, um welche Buspassage wir uns bemühen. Es sind zwar schon 479 Jahre vergangen, seit die Stadt von Diego de Velazquez als erste Stadt Kubas gegründet wurde und ganze drei Jahre lang den Titel „Hauptstadt“ inne hatte. Die Erwähnung Baracoas ruft jedoch noch heute fast immer eine besondere Reaktion hervor: Befremden, Lachen oder schlicht Schwärmerei.

Die Provinz Guantanamo ist auf der karibischen Seite die wohl trockenste Gegend Kubas. Gras, Bäume und Sträucher sind verdorrt, Kakteen tauchen plötzlich auf, und Oasen von Palmen und dichter Vegetation speisen sich ausschließlich aus fließenden Gewässern. Die Straße über den La-Farola-Paß ist schwindelerregend — das Abtauchen in die Täler der anderen, atlantischen Seite der Provinz sucht in Europa und auf Kuba seinesgleichen: erst Pinien, dann Laubwälder, in deren Schatten Kaffeeplantagen gedeihen, Bananenstauden, Büsche, Bäume und Blumen bedecken dieselben Berge, die karibischerseits nackt und ausgetrocknet der starken Sonne des Oriente ausgeliefert sind.

Leonides, ein 65jähriger drahtiger Schwarzer in Havanna, sprach von seiner Geburtsstadt Baracoa stets als einem „paradiso perdido“, einem verlorenen oder vergessenen Paradies. Die Verkehrsanbindung kann er damit nicht gemeint haben. So verdankt Baracoa die La-Farola- Paßstraße sowie den Flughafen der Revolution. Ebenso die beiden Polikliniken und das Hospital.

Warten auf einen Ruf, der doch nie kommt

In den neugierigen Blicken der Bewohner ist die Entfernung von Havanna spürbar. Ein alter Mann erhebt sich von seinem Fernsehsessel, humpelt zum Fenster, um uns freundlich lächelnd zuzuwinken. Viele junge Männer belagern schon tagsüber die Parkbänke, unterhalten sich oder schauen schweigend den Dorfschönheiten hinterher. Doch ist Baracoa keine Stadt der Jugend. „Für junge Männer gibt es wenig Arbeit in Baracoa“, erzählt ein 23jähriger, der momentan als Lackierer in Havanna arbeitet. Von seiner Verlobten, die in Baracoa als Krankenschwester arbeitet, lebt er fast ständig getrennt, da sie nicht in eine große Stadt ziehen möchte. Nach ihrer Heirat im nächsten Jahr wird den beiden kaum noch eine andere Wahl bleiben.

Kaffee, Kakao, Kokospalmen und Bananen dominieren die örtliche Wirtschaft. In der Landwirtschaft arbeitet jedoch hauptsächlich die Generation der 35- bis 55jährigen. Den ganz Jungen ist die zudem extrem unterbezahlte Landarbeit unter der tropischen Sonne zu hart.

Da viele Jugendliche in Santiago oder Havanna studieren, wächst eine teilweise hochqualifizierte Generation heran, die in Baracoa keine Arbeit findet. Eine Alternative könnte der Tourismus sein, in dessen Zentren sich jetzt schon studierte Germanisten oder Romanisten mit westlichen Massentouristen tummeln — Berufsperspektive: vom Barkeeper bis zum Reiseleiter. Offiziell werden die jungen Männer ohne Arbeit „Disponible“ genannt, also Arbeiter „auf Abruf“ — der natürlich nie erfolgt. Die arbeitslose Jugend sieht sich zudem einem mickrigen Freizeitangebot gegenüber, in dem sogar der Besuch in einer Diskothek der nachmittäglichen Reservierung bedarf.

Stets offene Türen und, außer in den Morgenstunden, auch einen freien Platz findet man in der „Casa de Chokolate“, einem ehemaligen Caféhaus, daß sich jetzt auf den Ausschank heißer Schokolade, zuweilen auch Puddings, spezialisiert hat. Einen kurzen Weg nur hat die Schokolade zurückgelegt, von den Stauden über die Fabrik am Stadtrand, bis sie im „Casa“ in Gläsern serviert wird.

José Felice Gomez, ein 79jähriger Campesino, kommt jeden Morgen hierher. Wie für viele bedeutet das Glas Schokolade auch für ihn angesichts einer Brotration von 80 Gramm pro Tag und Kopf ein Frühstücksersatz. Der Alte erzählt von früher, als es im damaligen Caféhaus noch alles von Kaffee bis Rum gegeben habe — das war natürlich ein Luxus. Plötzlich steht Gomez auf, beginnt zunächst leise, dann lauthals gegen die Jugend zu wettern, die nur Rum trinke, mit Motorrädern herumfahre und nicht arbeiten wolle. Nach Minuten verabschiedet er sich leise und freundlich — ein alter Mann, der seine Umwelt nicht mehr versteht.

Nicht die Revolution der jungen Generation

Für die angeprangerte Jugend sieht die Welt anders aus. Die Politik, die in Havanna gemacht wird, ist nicht nur geographisch weit weg. Die offizielle Informationspolitik hat in Verbindung mit der durch „Radio Marti“ und anderem illegalen Material ins Land dringender US-Propaganda mitunter fatale Folgen. An einem langen Abend am Malecon von Baracoa erzählt uns der 23jährige Pedro, er glaube der kubanischen Propaganda kein Wort mehr, und die USA seien ja schließlich eine Demokratie. „Abhängigkeit von den USA ist immer noch besser als Abhängigkeit von der Sowjetunion“, verkündet er. Schon 1970 habe doch der Sozialist Allende Chile ins Chaos gestürzt, und unter Pinochet sei die Wirtschaft doch gut gelaufen. Nur Demokratie müsse natürlich sein. Pedros Freunde, die sich für Politik ganz offensichtlich nicht interessieren, flüstern mir später zu, er sei halt „ein Contra“. Selbst in der Abgeschiedenheit Baracoas finden politische Diskussionen nur hinter vorgehaltener Hand statt. Schließlich kennt fast jeder jeden.

Für Padre Valentin ist das Problem auch nicht das sozialistische System. Schließlich kenne er Mexiko und El Salvador gut genug, um zu wissen, um wieviel besser es den Kubanern gehe. „Ein bißchen mehr Freiheit“ möchte er und spricht dabei nicht so sehr von Religionsfreiheit als von den Wünschen der Jugend: Freiheit zur Verantwortung und Teilhabe an den Geschicken des Landes.

Während die Eltern und Großeltern die Revolution noch selbst gemacht oder miterlebt haben, wurden die Kinder in die Revolution hineingeboren. Der viel verkündete Spruch „Yo soy la revolucion“ — „Ich bin die Revolution“ — trifft auf die Jungen nicht mehr zu. Der politische Konflikt ist damit vor allem ein Generationskonflikt.

Im Parque Central, direkt vor dem Kirchenportal, blickt ein eindrucksvolles Gesicht kämpferisch in das Kircheninnere. Dort befindet sich ein kleines Holzkreuz von Christopher Kolumbus, das dieser nach seiner Landung in Baracoa 1492 fertigen ließ. Die Statue vor dem Kirchenportal zeigt den Indianerhäuptling Hatuey, der schon 1512 als erster Rebellenführer Amerikas den Kampf gegen die spanischen Kolonisatoren aufnahm. Rebellengeist, der wohl der Geschichte angehört.