Die erfolgsverwöhnte Schweiz erwartet im Herbst richtige Streiks

■ In der Rezession wollen die Unternehmer sich den bisher üblichen Teuerungszuschlag sparen

Bern (dpa/taz) — Mit angriffslustigen Tönen, in die sich sogar klare Streikandrohungen in der von Arbeitskämpfen sonst weitgehend verschonten Schweiz mischen, machen die Gewerkschaften des Alpenlandes dieser Tage mobil. Die bevorstehenden harten Lohnrunden in dem reichen Land stehen diesmal nämlich unter keinem guten Stern. Weniger die Tatsache, daß im Oktober nationale Wahlen angesetzt sind, drückt die Stimmung und die Lust auf volkswirtschaftlich teure Arbeitskämpfe: Die Wirtschaft der Schweiz ist in der Flaute. Und die Unternehmer zeigen wenig Neigung, sich in Zeiten gedrosselter Konjunktur gönnerhaft zu geben.

In den zurückliegenden sieben fetten Konjunkturjahren haben es die Gewerkschaften des Alpenlandes — zu ihrem heutigen Ärger — hingenommen, daß die Reallöhne mit den Produktivitätssteigerungen der florierenden Wirtschaft nicht ganz mithielten.

Inzwischen kommen zu der hohen Geldentwertung von derzeit etwa sechs Prozent klar anziehende Arbeitslosenzahlen: Im August erreichte die Quote mit 1,3 Prozent einen für die Schweiz schmerzhaften Wert — den höchsten seit Januar 1985, mit steigender Tendenz. Keine Woche vergeht ohne die Ankündigung von Entlassungen — netto könnten 1991 nach Berechnungen 10.000 Stellen verlorengehen.

Ende des bekannten schweizer Arbeitsfriedens

Vor dem düsteren konjunkturellen Hintergrund, der sich nach Expertenberechnungen wohl erst im kommenden Jahr stärker aufhellen dürfte, könnte der bekannte Schweizer Arbeitsfriede nun gefährdet sein. Schon im letzten Jahr zeigten sich Genfer Beamte streiklustig, und zum Auftakt des diesjährigen „heißen Herbstes“ demonstrierten Beamte, Krankenschwestern und Lehrer in Bern für vollen Teuerungsausgleich, der einen Grundstein des eidgenössischen Arbeitsfriedens darstellt.

„Preise fahren Lift — Löhne müssen mit“, unter diesem Motto will der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) zumindest diesen vollen Teuerungsausgleich notfalls mit Streiks erkämpfen. In unteren Einkommensgruppen sollen die Löhne real angehoben werden. In den letzten zehn Jahren seien den Arbeitnehmern im Schnitt fünf Prozent Reallohnanhebung im Jahr vorenthalten worden, wettert SGB-Präsident Walter Renschler. Kein Teuerungsausgleich bedeute Kaufkraftverlust und Reallohnabbau. Im Land des wenig optimalen Kündigungsschutzes behält der SGB dennoch immer das Wohlergehen der Wirtschaft im Auge.

Die Arbeitgeber sehen dies naturgemäß durch eine andere Brille. Ihr Zentralverband warnte vor einer Gefährdung der Arbeitsplätze, einer verstärkten Abwanderung ins Ausland und vor einer weiter angeheizten Inflation. Im internationalen Wettbewerb hat sich die Position der erfolgsverwöhnten Schweiz in der Tat verschlechtert, wozu allerdings nicht allein die hohen Lohnkosten, Sozialbelastungen und die vielen staatlichen Vorschriften beigetragen haben. Andere Länder holten auf und zeigten dabei teilweise mehr Innovationsfreude als die Schweizer.

Alles bloß Panikmache vor der Wahl?

Manch einer hält das alles für Stimmungsmache vor den Wahlen. So ist der liberale Genfer Wirtschaftsprofessor Peter Tschopp jedenfalls ganz sicher, daß die meisten Beschäftigten doch noch den vollen Teuerungsausgleich, wie in jedem Jahr, bekommen.