Teure Schule auf dem Prüfstand

Gutachten über NRW-Schulbetrieb sorgt für Wirbel/ Schulpolitik in der Sackgasse/ Schuld sind immer nur die anderen/ Lehrerlobby heult auf/ In den kommenden Jahren 20% mehr SchülerInnen/ Bildungsforscher sehen System gefährdet  ■ Aus Düsseldorf Walter Jakobs

Noch gehört das westdeutsche Schulsystem „zu den besten der Welt“. Aber, so ist sich der Dortmunder Schulforscher Prof. H.-G. Rolff sicher, „wir befinden uns in einer Situation, wo genau dies gefährdet ist“. In den nächsten fünf bis sieben Jahren erwartet Rolff in den alten Bundesländern eine Steigerung der Schülerzahlen um rund 20 Prozent im Vergleich zu 1990. Immer mehr Schüler streben einen höheren Abschluß an. Allein in Frankfurt erwarten 70% der Eltern, daß ihre Kinder das Abitur machen. Mit den bisher verfügbaren Finanzmitteln ist dieser durch die aktuellen Zuwanderungen ständig wachsender Versorgungsbedarf nicht mehr zu decken. Und schon macht das geflügelte Wort vom Bildungsnotstand die Runde.

In diese schulpolitische Landschaft paßt ein Gutachten über den Schulbetrieb in NRW, das von der Kienbaum Unternehmensberatung im Auftrag des Düsseldorfer Kultusministeriums erstellt wurde. Heute wird über das 600 Seiten starke Werk, das Schulpolitiker und Lehrerverbände gleichermaßen aufgescheucht hat, im Landtag debattiert. Die Aussagen der in dieser Breite einmaligen Studie haben Gewicht — auch über NRW hinaus. Die Botschaft der Gutachter fiel nach einjähriger Untersuchung eindeutig aus: Das nordrhein-westfälische Schulsystem, das pro Jahr rund 12 Mrd. DM kostet und 137.000 Lehrerstellen aufweist, kann kaum mehr funktionieren, es bedarf „einer Grundsanierung mit erheblichen Einschnitten“.

Allein die Erfüllung der rechtlich festgeschriebenen Aufgaben erforderte die sofortige Einstellung von 17.000 Lehrern und die unbefristete Entsperrung von 8.100 sogenannten kw-Stellen („kann wegfallen“). Zusätzliche Kosten pro Jahr: 2,25 Mrd. DM, nicht gerechnet die Folgekosten durch Pensionsansprüche. Dem Ausgleich zwischen Soll und Ist stehen die leeren Kassen der öffentlichen Hand entgegen — den Politikern bleibt wohl nur das schwierige Geschäft der Sanierung. Die Gutachter empfehlen erhebliche Eingriffe vor allem bei den Klassen- und Kursfrequenzen, bei der Lehrerarbeitszeit und bei den differenzierten Angeboten außerhalb der normalen Stundentafel. Anders, da sind sich die Gutachter einig, ist die Grundversorgung im schulischen Bereich künftig nicht mehr finanzierbar. Zwar sind die bildungspolitischen Sonderwege und Zusatzleistungen — viele Langzeitschulformen, das 10. Hauptschuljahr, die Gesamtschule mit Ganztagsangebot, umfangreiche Unterrichtsangebote für ausländische und zugewanderte SchülerInnen — des NRW-Systems besonders teuer, aber demnächst werden auch hier die anderen Bundesländer den Rotstift ansetzen müssen. Wo die Düsseldorfer Landesregierung sparen wird, steht dahin. Kultusminister Hans Schwier schweigt sich dazu ebenso aus wie der insbesondere von der FDP-Opposition heftig attackierte Ministerpräsident Johannes Rau. Zunächst wartet die Regierung ab, wo sich bei den Beteiligten die Schmerzgrenzen herauskristallisieren.

Die NRW-CDU wertet das Gutachten als Beweis „für die Unfähigkeit des Kultusministers“, die Weichen für „die Zukunft unserer Kinder richtig zu stellen“, und verlangt dessen Rücktritt. Die FDP fordert gar einen Untersuchungsausschuß. Totale Konfusion herrscht bei den Grünen. Während Fraktionssprecherin Bärbel Höhn für „die Abschaffung des Beamtenstatus für LehrerInnen“ plädiert und die „Fülle von Sonderrechten“ für die Pädagogen beklagt, sorgt sich die schulpolitische Sprecherin der Fraktion, Brigitte Schumann (Lehrerin), um die „Verschlechterung der Arbeitsbedingungen“ für ihre Zunft.

Im Gutachten steht explizit, daß die Misere nur „in unwesentlichem Maße“ auf „das unwirtschaftliche Verhalten der Lehrerseite“ zurückzuführen ist. So werden für die Fort- und Weiterbildung der Pädagogen in NRW im Jahr 3.237 Stellen angesetzt. Bei einem „spürbaren“ Teil der Fortbildung kann nach Auffassung der Gutachter allerdings eine „Nutzbarkeit für den Unterricht nicht unbedingt unterstellt werden“. Ein großer Teil der LehrerInnen- Fortbildung findet während der Unterrichtszeit statt. Die Schulämter legten von 4.609 Fortbildungsangeboten lediglich 18 in die Schulferienzeit. Und NRW gewährt Pädagogen auch Freistunden zur Wahrnehmung parlamentarischer Mandate, die Freistellungen wegen besonderer Aufgaben nicht mitgezählt. Und auch die Altersermäßigungsstunden für die Bediensteten zwischen 50 und 65 können sich sehen lassen. Nirgendwo gibt es mehr. Vom Philologenverband werden diese Inseln der Glückseligkeit ebensoschnell übergangen wie von der GEW. Die Philologen suchen sich die kritischen Punkte zur Gesamtschule aus dem Gutachten, schweigen sich aber aus, wenn die kostenintensive Vielfalt bei kleinen Gymnasien angesprochen wird. Bei der GEW geht es genau anders herum. Angesichts solcher Keilereien tut ein Satz gut, der sich auf Seite 6 der Kienbaum-Studie findet: „Ausgangsüberlegung dieses Gutachtens ist, daß Schule in erster Linie eine Veranstaltung im Interesse der Schüler ist.“