Spendeorgane: Schnäppchen für die Chirurgie

Die Transplantationsmedizin ist durch die Vorfälle in der Berliner Charité wieder mal ins Rampenlicht geraten/ Westliche Methoden der Organbeschaffung sind raffinierter/ Organe können auch gegen den Willen von Angehörigen entnommen werden  ■ Von Gisela Wuttke

Christian starb noch an der Unfallstelle. Er war auf dem Weg zur Schule, als er von einem Auto so schwer erfaßt wurde, daß der Rettungswagen fast zu spät gekommen wäre. Fast, weil es dem Rettungssanitäter gelang, Christian zu reanimieren und sein Herz-Kreislauf-System trotz der tödlichen Kopfverletzung zu stabilisieren. Aber der Junge wurde daraufhin nicht, was naheliegend gewesen wäre, in ein Wolfsburger Krankenhaus eingeliefert, sondern — mit dem Hubschrauber — in das weit entfernte Transplantationszentrum in Hannover. Nach einigen Stunden des Bangens bekam die inzwischen herbeigerufene Familie mitgeteilt, daß ihr Sohn verstorben sei — doch auch diesmal nicht wirklich gestorben, sondern „hirntot“.

Wie ein „ausgeschlachtetes Auto“

Damals wußten die Angehörigen nicht, was damit ausgesagt war. Und sie willigten ein, als sie gefragt wurden, ob sie mit einer Organentnahme — vielleicht das Herz, die Leber oder die Niere — einverstanden wären. In einer solchen Situation, erklärt die Mutter später ihr Verhalten, kann man nicht nein sagen. Der Gedanke, einem anderen Kind das Leben retten zu können, sei einfach zu stark.

Sie selbst habe in der Klinik einen Menschen zurückgelassen, der keineswegs „tot“ aussah, vielmehr, als ob er schliefe. Aber sie vertraute den Ärzten. Erst, als sie ihren Sohn zur Beerdigung zurückerhielt, sah sie einen wirklich toten Körper. In einem Interview (Bilder aus der Wissenschaft, November 1986) beschreibt sie ihre Erschütterung. Ihrem Sohn fehlten beide Augen, sämtlich Organe und selbst die Beckenkämme. Wie ein „ausgeschlachtetes Auto“ habe sie ihren Sohn wahrgenommen. Daß man nach der Explantation vergessen hatte, den Körper zu reinigen, ihm die Kanülen aus den Armen zu entfernen, sei nur am Rande vermerkt. Bis heute zweifelt die Familie daran, daß der Hirntod von Christian überhaupt festgestellt worden war.

Dieser Fall ist keineswegs ein Stückchen aus dem Horrorkabinett der modernen Medizin. Er ist nur deshalb bekannt geworden, weil die Familie nicht locker ließ, die Todesumstände ihres Kindes zu erfahren. Aber sie stehen rechtlos da. Ihre Strafanzeige wurde mit der Begründung zurückgewiesen, daß Christian auf jeden Fall gestorben wäre — Hirntod hin, Transport her.

Der Hirntod kann nur durch ein bestimmtes Verfahren festgestellt werden, das heißt, er wird von außen definiert. Er ist zwar unsichtbar, aber wahrscheinlich unumkehrbar und die Entdeckung für die Transplantationsmedizin. Mit dem „irreversiblen Zusammenbruch“ sämtlicher Gehirnfunktionen weist das EEG eine sogenannte Null-Linie auf, so daß die Versorgung lebenswichtiger Funktionen durch den Einsatz von Herz-Lungen-Maschinen ersetzt werden muß, wollen die Ärzte den Herztod verhindern. Transplantables Gewebe muß nämlich „heiß“, also durchblutet sein. Organe von Leichnamen sind meist vorgeschädigt und damit für Transplantationen ungeeignet.

Selbst die einen Organspende- Ausweis mit sich führenden BefürworterInnen der Organspende wissen oft nicht, daß der Hirntod überhaupt existiert. Sie verbinden mit der Entscheidung zur Organspende vielmehr die Vorstellung, ihr Leben nicht unnötig zu verlängern und mit ihrem Tod (Hirntod) anderen das Leben zu retten. Der Organspende- Ausweis ist rechtlich völlig unwirksam und nichts weiter als eine Willensbekundung. Nur die Angehörigen entscheiden über die Organentnahme. Ein Recht auf Selbstbestimmung ist mit dem Organspende-Ausweis nicht gegeben, denn wenn die Angehörigen widersprechen, ist eine Explantation unzulässig.

Dagegen können Mediziner im Zweifelsfall auf ein Rechtsmittel zurückgreifen, das ihnen die Organentnahme selbst gegen die ausdrückliche Haltung der Angehörigen erlaubt. Unter Zuhilfenahme des in der Rechtsmedizin höchst umstrittenen Paragraphen 34 des Strafgesetzbuches können die Chirurgen einen Notstand konstruieren, der eine Entnahme dringend macht. Deshalb sind in allen bisherigen Fällen die betroffenen Angehörigen vor Gericht abgeblitzt und hatten sich mit der Organentnahme abzufinden.

In den meisten anderen Ländern ist die Organentnahme längst rechtlich geregelt. Favorisiert ist die sogenannte Widerspruchslösung, mit der man sich den größten Zugriff aufs menschliche Organ verspricht. Nur wer im Fall eines (Hirn-)Todes Widerspruch gegen die Organentnahme einlegt, bleibt unversehrt, daß heißt, es wird widersprochen, aber nicht zugestimmt. Vor wenigen Tagen noch wurden einem in Tirol tödlich abgestürzten deutschen Bergsteiger „nachweislich alle Organe“ entnommen, weil dieser in seinem Personalausweis keinen Widerspruch vermerkt hatte. Ein Schnäppchen für die österreichischen Chirurgen...

„Es wird viel zu oft nach Organen gefragt“

Wie in der Ostberliner Charité tritt das Drama der Hirntodbestimmung allerorten auf. Wendet man sich dem Unfallopfer noch als Patienten zu oder schon als potentiellem Organspender? Diese Bruchstelle macht das ganze Dilemma der Transplantationsmedizin deutlich, das durch Zeitnot, Psychostreß, Interessenkonflikte der beteiligten FachärztInnen und Karrieren noch verschärft wird. Und wenn von BefürworterInnen der Organspende erklärt wird, nicht an Schläuchen und Maschinen sterben zu wollen, steht fest: Hirntod ist ein Tod an Schläuchen und Maschinen, nur daß nicht zu Ende gestorben wird.

Daß mit der Organspende Leben gerettet wird, wie die Transplantationsmedizin verheißungsvoll wirbt, skandalöserweise sekundiert von den Kirchen, ist fragwürdig. Selbst wenn sich Transplantierte, subjektiv nachvollziehbar, als gesund oder wenigstens als gesünder erleben: Sie bleiben PatientInnen und fürchten sich vor Abstoßungsreaktionen. Denn wenn ihr Körper das fremde Organ nicht annimmt, müßten sie sterben. Manche entscheiden sich sogar für eine wiederholte Transplantation, wodurch sich der Bedarf an Organen nochmals erhöht. Inzwischen ist von einem „Mangel an Organen“ selbst dort die Rede, wo die medizinischen Kapazitäten längst erschöpft sind oder Wartelisten gar nicht existieren.

So beklagt Guido Persijn, Leiter von Eurotransplant, europäische Organvermittlungszentrale im holländischen Leiden, daß häufig zu schnell und zu oft nach Organen gefragt würde, wo andere medizinische Therapien längst noch nicht versagt hätten. Auch melden sich Herzspezialisten zu Wort, die kritisieren, daß Herzoperationen kaum noch gewagt würden, weil Transplantationen zwar nicht mehr an Heilungschancen, aber mehr an Prestige brächten. PatientInnen, denen von einer Transplantation abgeraten wird, empfinden dies häufig als persönliche Benachteiligung, so, als seien sie ein Spendeorgan nicht wert.

Und tatsächlich mag man ja auch glauben, daß Privatpatienten wie Bundeskanzler Kreisky oder der kürzlich verstorbene Fürst von Thurn und Taxis auf eine ordinäre Warteliste gesetzt werden, bis ein für sie passendes Organ, zum Beispiel in Hannover, gefunden ist. Und da hier keine Stasi ihr Unwesen treibt, wird schwer zu überprüfen sein, über welche (weiten) Wege das Spendeorgan beziehungsweise der Schwerstverletzte in die Klinik gelangt ist.

„Sonderfälle der Natur“ als Organbanken

Inzwischen macht die Transplantationsmedizin schon längst nicht mehr am Knochenmark und an der Niere halt; es werden zwischenzeitlich auch Teile der Leber und halbe Bauchspeicheldrüsen von lebenden Spendern akzeptiert. Die Formen sind subtiler geworden. In den USA und in Italien wurden Kinder gezeugt, weil sie als Knochenmarkspender gebraucht wurden. Schon vor Jahren definierte Professor Fritz Beller von der Universität Münster anencephale Säuglinge, das sind nicht überlebensfähige Säuglinge ohne ausgebildetes Gehirn oder Schädeldecke, als „Sonderfälle der Natur“, was ihm dann erlaubte, diese als Organbanken zu verwenden. Nachweislich wurde in den öffentlich gewordenen Fällen keine Hirntod-Diagnose gestellt, handelte es sich doch bei diesen Geschöpfen um „Nielebende“, so Beller.

Spendeorgane fallen nicht vom Himmel. Sie müssen beschafft werden, von nah und fern, oftmals in einem verzweifelten Kampf gegen die Zeit. Ohne ethisch zweifelhafte Transporte käme man nicht sehr weit, muß doch die Klinik erreicht sein, bevor der Tod eintritt. Gäbe es nicht die Transplantationsmedizin — kein Mensch käme auf den Gedanken, einem schwerverletzten, wahrscheinlich sterbenden Menschen einen Transport zuzumuten, der nicht allein seiner Lebensrettung dient.

Die in der Charité bekannt gewordenen Fälle sind nur die Spitze eines Eisberges, kommentiert Ellis Huber, Präsident der Berliner Ärtzekammer. Eigentlich müßte er doch wissen, worüber er spricht. Denn das, was sich da an Furchtbarem in dem Ostberliner Krankenhaus tatsächlich abgespielt haben mag, offenbart nichts anderes als den existentiellen Kern der Transplantationsmedizin und nicht den irgendeiner Klinik, irgendeines Arztes, irgendeines Landes.