Ossetiens Mütter klagen an

Schreckliche Verbrechen der georgischen Truppen in der autonomen Region  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Auf verschiedenen zentralen Plätzen Moskaus wurden sie bestaunt, ihr Bild erschien in fast allen sowjetischen Zeitungen: zwei Dutzend ossetische Mütter, die die schwarzumrandeten Riesenporträts ihrer toten Söhne vor sich her tragen. Die Mütter wollen die Aufmerksamkeit der Welt auf das Blutvergießen am Kamm des Kaukasus lenken, das im Herbst 1989 begann; auf die willkürliche Teilung eines kleinen Volkes. Teimuras Kowsonow, sowjetischer Minderheitenexperte, und Alan Tschotschijew, Mittelschuldirektor und Lokalpolitiker aus Zchinwali, unterstützten die Frauen bei einer kleinen Pressekonferenz in der Moskauer ossetischen Gemeinde.

„Ich war Zeuge von Stammeskämpfen in Südafrika, aber eine derartige Rohheit und Wildheit im Umgang mit Menschen wie bei uns in der Sowjetunion habe ich nirgends in der Welt erlebt.“ Die Stimme des erfahrenen Journalisten Kowsonow versagt. Den Opfern der georgischen Soldateska, so Kowsonow, werden bei lebendigem Leibe Ornamente in die Haut geschnitten, die Wunden mit Salz bestreut, die Gesichter mit Lötlampen unkenntlich gemacht. Eine der Mütter fand ihren Sohn an den eigenen Geschlechtsteilen erstickt, die man ihm nach der Kastration in den Rachen gezwängt hatte. Sechs Massengräber hat man bei Zchinwali gefunden. Fast alle Toten sind unidentifizierbar. „Hier ist eine Frau, deren schreckliches Schicksal man kaum ausdrücken kann“, berichtet die Sprecherin der Mütter. Ihr blasses, leergeweintes Gesicht erinnert an die Maske eines antiken Chores: „Die beiden Söhne jener Mutter waren als Geiseln genommen worden. Eines Tages brachte man ihr — nein, nicht einen Sarg, sondern einen Sack mit einer verwesenden Fleischmasse.“ „Und doch“, fährt die Sprecherin fort, „gibt es unter uns Frauen, die diese Mütter in Trauer noch beneiden. Es sind die Mütter und Frauen von Verschollenen und Geiseln.“

Wie so viele der ethnischen Konflikte auf dem Terrain der ehemaligen Sowjetunion wurzelt das blutige Drama zwischen Georgiern und Osseten im Sowjetimperialismus. Die Osseten sind ein iranischer Stamm, der zur Zeit der großen Völkerwanderung in den Hochtälern des Kaukasus steckenblieb. Jahrhundertelang ging das kleine Volk eine enge Symbiose mit den benachbarten Georgiern ein. Die territoriale Gliederung des zaristischen Reiches kannte keine nationalen Vorzeichen. Damals existierte ein ossetischer Kreis im Tifliser Gouvernement, welches nicht mit dem heutigen Georgien identisch war. Der erste Vertrag zwischen Sowjetrußland und Georgien wurde am 7.Mai 1920 geschlossen. Auf ihn berufen sich die Georgier heute bei der Verteidigung ihrer Souveränität. Dieser Vertrag legte provisorisch (für ein Jahr) eine Grenze fest, die Ossetien — allerdings an ganz anderer Stelle als heute — zwischen Rußland und Georgien teilte. Er forderte, was man auf georgischer Seite heute vergißt: die nationale Selbstbestimmung aller Kaukasusvölker nach Ablauf des entsprechenden Jahres. Ein Nachfolgevertrag wurde nie geschlossen. Statt dessen teilte man Ossetien Mitte der zwanziger Jahre — nun schon per Dekret, in die „Nordossetische Autonome Sowjetrepublik“ (Wladikawkas), die in die Russische Föderation inkorporiert wurde und in das „Südossetische Autonome Gebiet“ (Hauptstadt Zchinwali) — als Teil Georgiens. Den Osseten, die bisher lateinisch geschrieben hatten, verordnete man zugleich im Norden das kyrillische und im Süden das georgische Alphabet. Daß die Proklamation Südossetiens, man wolle die staatliche Einheit mit dem Nordteil des Landes wiederherstellen und als autonomes Subjekt der UdSSR beitreten, am Anfang des Blutvergießens stand, bestreitet Tschotschijew ebenso vehement wie das Gerücht, es sei der KPdSU-Apparat in beiden Teilen Ossetiens gewesen, der diesen Prozeß in Gang setzte. „Im Gegenteil, hundertmal habe ich unseren Funktionären gesagt: ,In drei Jahren wird eure Partei von der Bildfläche verschwunden sein — also tut etwas für euer Volk, solange ihr noch ein bißchen Macht habt.‘ Aber ich stieß auf taube Ohren“, sagt Tschotschijew.

Er weist nach, daß es im Gegenteil der alte, noch von der kommunistischen Partei formierte Oberste Sowjet Georgiens war, der im November 1989 und im März und Juni 1990 mit einem Paket von Gesetzen die Südossetische Autonomie mit ihren ohnehin schwachen Minderheitsrechten annullierte und den Osseten und anderen Minderheiten auf georgischem Boden eine politische Betätigung praktisch untersagte: Er verbot alle Parteien, die nicht auf dem Gesamtterritorium der Republik operieren. „So ging der Nationalbolschewismus lückenlos in den Nationalfaschismus des heutigen Führers Swiad Gamsachurdija über“, argumentiert Tschotschijew. Speziell Präsident Gorbatschow wirft er vor, nichts unternommen zu haben, um den Konflikt zu mildern. Am 7.Januar 1990 verbot zwar ein Präsidenten-Ukas das Operieren ungesetzlicher Freischärlergruppen auf ossetischem Gebiet, doch — so Tschotschijew — es sei bei den Worten geblieben. Das Bataillon der Truppen des Innenministeriums der UdSSR, das heute um Zchinwali stationiert ist, so versichern die Mütter, sehe dem Blutvergießen tatenlos zu und wache nur über die Einhaltung der Ausgangssperre, die die Zchinwalier daran hindere, ihren Verwandten in den benachbarten Dörfern zu Hilfe zu kommen.

Daß auch die Nordosseten die Vereinigung wünschen, läßt sich aus der Bereitschaft schließen, mit der sie Flüchtlinge aus dem Süden des Landes und aus Georgien aufnehmen. Dreihunderttausend Bürger dieses Landesteiles beherbergen jetzt 30.000 Obdachlose aus Südossetien und 50.000 Flüchtlinge aus Georgien. Auch dort gab es mehrheitlich von Osseten besiedelte Dörfer, von denen jetzt 70 völlig verödet sind. In Südossetien selbst wurden 95 Dörfer von allen Bewohnern verlassen. Wie die Mütter hofft auch der 28jährige Roman Balajew auf ausländische Hilfe. Roman wuchs in der urrussischen Stadt Tscheljabinsk auf und ist Sohn eines Osseten. Den Afghanistan-Krieg überstand er heil, doch als er nach Zchinwali eilte, um seinen „Vorfahren“ zu helfen, geriet er in einen Hinterhalt. Heute steckt sein gesamter Unterkörper in Gips. „Die Beine und Hüftknochen sind nur noch Splitter, das kann man bei uns nicht operieren“, sagt seine Freundin verzweifelt: „Vielleicht findet sich ja unter Ihren Lesern ein Arzt, der dazu in der Lage ist, oder wenigstens ein Spender für die Reisekosten, damit er leben kann.“