Wie die Privatwirtschaft in Vilnius ihren Einzug hält

Besuch in den ersten privaten Geschäften/ Im Gemischtwarenangebot findet sich fast alles, was früher nur auf dem Schwarzmarkt zu haben war/ Bürger aus den Nachbarstaaten sind nicht nur geschätzte Kunden sondern auch wichtige Lieferanten/ Der Niedergang staatlicher Versorgung zeigt erste Auswirkungen  ■ AUS VILNIUS ANDREA BÖHM

Es riecht nach Öl, Blech und Gummi, und Algis Jegelavicius versucht gar nicht erst den Eindruck zu erwecken, als fühle er sich in dem Chaos von Reifenfelgen, Autotüren und Auspufftöpfen wohl. Mit Schlips und Jackett brütet er auf einem Hocker über den Abrechnungsbüchern, während um ihn herum gerade über den Preis für einen Satz Zündkerzen verhandelt wird.

„90.000 Umsatz im August“, sagt Jegelavicius und klappt die Bücher zu, sichtlich entnervt — schließlich ist er gelernter Ingenieur für Robotertechnik und kein Buchhalter. Am liebsten würde er sich weiterhin in seinem staatlichen Betrieb mit Automatisierung beschäftigen, bloß verdient er da nur 500 Rubel im Monat. Das reicht nach alten Maßstäben zum Überleben, aber nicht für Zukunftspläne. Und Zukunft — das bedeutet für Jegelavicius, bald Eigentümer, nicht nur Mieter einer Wohnung zu sein. Deshalb hat er sich einer Kooperative angeschlossen, in deren Auftrag das neue Heim gerade gebaut wird. Ein Drittel des Kaufpreises muß er sofort auf den Tisch legen, den Rest über die nächsten 25 Jahre — 40.000 Rubel alles in allem. Ein Ingenieur für Robotertechnik kann sich das nicht leisten. Die Frage nach dem Spaß am neuen Job stellt sich für Algis Jegelavicius folglich nicht. „Der Mensch gewöhnt sich an vieles“, sagt er lakonisch.

Der freie Markt ohne Bezugsscheine

Auch an die 1.800 Rubel, die er jetzt als Mitinhaber eines jener Kommerzläden verdient, in denen man völlig legal kaufen kann, was unter realsozialistischen Zeiten nur auf dem Schwarzmarkt zu haben war. Bei Jegelavicius gibt es außer Kotflügel für ramponierte Lada-Modelle, Motoröl und Tankdeckeln auch eine Abteilung für Gemischtwaren: Deosprays, Rasierwasser, Zigaretten, Kassettenrecorder und der Mikrowellenherd für 7.000 Rubel — alles aus dem Westen; gebrauchte Mopeds made in Lettland, Schuhe aus eigener Produktion für 200 bis 700 Rubel und die guten Reebok-Basketballstiefel für 1.300 Rubel — Waren, die in den staatlichen Läden entweder gar nicht oder oft nur gegen „Talones“, sogenannte Bezugsscheine, zu haben sind. „Talones“ erhält nur, wer in Litauen als Einwohner registriert ist. Die Maßnahme richtet sich vor allem gegen die nächsten Nachbarn — Besucher aus Polen und Rußland, die weniger an den touristischen Sehenswürdigkeiten der Altstadt von Vilnius interessiert sind, als vielmehr am Warenangebot, das vor allem im Vergleich zu den Sortimenten in russischen Geschäften breit gefächert ist.

Solche Beschränkungen seinen Kunden aufzuerlegen, würde Algis Jegelavicius nicht im Traum einfallen. Schließlich zählen Polen und Russen nicht nur zu umsatzsteigernden Einkäufern, sondern auch zu den unentbehrlichen Lieferanten. „Unsere freien Mitarbeiter“ nennt Jegelavicius jene Zwischenhändler, die auf ausgedehnten Touren durch die anderen Republiken sein Lager mit Waren auffüllen, die sie selbst billig eingekauft, oder aus staatlichen, sowjetischen Beständen „abgezweigt“ und „organisiert“ haben. Wie die Bac-Deosprays, die Body Lotion oder die Autoersatzteile nun genau auf dem Ladentisch in Vilnius landen, „das“, sagt Algis Jegelavicius, „interessiert sowieso keinen“.

Das reichhaltige Angebot an Schreibwaren ist unter anderem auf die rege Reisetätigkeit mancher Litauer in die Volksrepublik China zurückzuführen. Dort wird eingekauft — zum Beispiel kartonweise Füllfederhalter, die sich seit Monaten in Vilnius großer Beliebtheit erfreuen — das Stück für 60 Rubel.

Bewegung auf dem Kunstmarkt

Den Fortgang der Privatisierung bemerkt man in Vilnius, außer an der wachsenden Zahl der Kommerzläden, an dreierlei: am Handverkauf russischer Pornos auf dem ehemaligen Lenin-Boulevard, sowie an der rapiden Vermehrung von Videotheken und Galerien. Der Shooting Star auf dem Kunstmarkt, die Gesellschaft „Siaures Atenai“ ist nicht nur Betreiberin einer Galerie, die schwarze Zahlen schreibt, sondern finanziert damit auch eine Kulturzeitung und ein Theaterensemble.

Während die Kommerzläden in den Kellergeschossen und Hinterhöfen ihr Schwarzmarktflair nie ganz verlieren, herrscht in den Galerien auf eigenhändig abgezogenen Parkettböden gepflegte Atmosphäre — und vor allem ungebrochener wirtschaftlicher Optimismus. Eine kunstinteressierte Schicht mit genügend Geld wird es auch dann geben, wenn sich dank der Wirtschaftsreformen tausende von Litauern arbeitslos auf der Straße wiederfinden werden. „Auf dem Kunstmarkt ist endlich etwas in Bewegung geraten“, sagt Grazina Gzuzauskiene, Geschäftsführerin der Galerie von „Siaures Atenai“, die bis vor einem Jahr noch im Handelsministerium arbeitete. Und sie meint nicht nur die Konkurrenz, sondern auch die Qualität. Von Staats wegen in Auftrag gegebene Serienproduktionen sind nicht mehr gefragt. Jetzt gibt es neben Kunsthandwerk — für fast jede Galerie wichtiger Bestandteil des ökonomischen Überlebens — nur Autorenarbeiten zu sehen und zu kaufen. Für Rubel, was die Gefahr birgt, daß Besucher aus dem Westen sich gebärden wie beim Sommerschlußverkauf.

Durfte früher nur mit entsprechender Ausfuhrgenehmigung aus Moskau für Devisen verkauft werden, so hofft man jetzt auf die litauischen Gesetzgeber, die entsprechende Regelungen schaffen sollen. „In einem Monat“, so glaubt Grazina Gzuzauskiene, kann sie die Bilder und Skulpturen in Dollar oder Mark auspreisen — zur Freude der Galeristen und Künstler, zum Leidwesen des einheimischen Publikums.

Multinationaler Lebensmittelmarkt

Über Preise für Bilder und Skulpturen macht sich Algis Jegelavicius keine Gedanken, sein fürstliches Gehalt als Mitinhaber eines Kommerzladens hat er ohnehin anders verplant. Was darüberhinaus bleibt, ist das luxuriöse Gefühl, sich jetzt guten gewissens die Lebensmitteleinkäufe auf dem Markt nahe der sowjetischen Kasernen leisten zu können. Hier hat sich zum Handeln ein multinationaler Querschnitt der alten Sowjetunion eingefunden: Ukrainer, Bjelorussen, Georgier, Armenier und Aserbaidschaner verkaufen hier vor allem Obst und Gemüse — aus eigenem Anbau oder aus den Kolchosen, deren Produkte ansonsten verrotten würden. Preise werden durch Nachfrage, Konkurrenz oder das Gesetz des Stärkeren geregelt. Neulich hat eine Schießerei zwischen Aserbaidschanern und Armeniern den Marktplatz in kurzfristige Panik versetzt. Anlaß war nicht der Streit um Berg Karabach, sondern die Frage, was eine Wassermelone kosten darf. Verletzt wurde niemand.

Lenin hat wieder einen Wert

An immer mehr Ständen sieht man jetzt auch diejenigen, die den Niedergang der Wirtschaft und den Zusammenbruch des staatlichen Versorgungssystems als erste zu spüren bekommen. Alte Menschen, meist Frauen, die für ein, zwei oder drei Rubel einheimische Billigzigaretten, Zahnpasta oder russische Kosmetika verkaufen, deren Verfallsdatum schon längst überschritten ist. Die Inflation frißt ihnen ihre Rente weg, die aufgrund der steigenden Preise ohnehin kaum mehr zum Leben reicht.

Besser dran ist, wer jetzt seine Lenin-Büste aus dem Keller oder unter dem Bett hervorholt und dem freien Markt überläßt. In den Antiquariaten der Stadt liegt der Preis pro Stück zur Zeit bei 1.000 Rubel — zumindest im Bereich des Materiellen ist die Wertschätzung für den Staatsgründer der Sowjetunion rapide gestiegen.