Die „Feiglinge“ werden rehabiltiert

■ „Opfer der NS-Militärjustiz“ haben jetzt in Bremen eine eigene Anlaufstelle

Dokumente eines Bremer Deserteurs ausgestelltFoto: Falk Heller

Auf dem Bahnhofsgelände hinter dem Fruchthof steht ein Schuppen leer, vor einer vergitterten Fensteröffnung steht eine absterbende Lärche, dahinter führen die Gleisanlagen vorbei. Auf der Rampe war gestern vormittag ein klassisches Bufett aufgebaut: Hier feierte die Bundesvereinigung der Opfer der NS-Militärjustiz die Einweihung ihres Büros.

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mit der Ausstellungswand

Dem unermüdlichen Einsatz ihres Vorsitzenden, Ludwig Baumann, selbst im Kriege zum Tode verurteilt, hat Bremen diese Anlaufstelle zu verdanken.

In der industriellen Hinterhof- Atmosphäre soll die Geschichte der Militärjustiz und Militärpsychiatrie der Nazizeit aufgearbeitet und archiviert werden. 46 Jahre nach dem Ende dieses Regimes warten die letzten Überlebenden Deserteuer immer noch auf eine Entschädigung. Erst die Debatte über die Entschädigung von Stasi-Opfern hat die Bundesregierung veranlaßt, die Kontinuität zu den Richtern des NS-Regimes zu brechen und die Rehabilitierung der Opfer zur Diskussion zu stellen. „Wer schnell gibt, gibt doppelt“ hat Bundesjustizminister Kinkel im Juni 1991 zum „Unrechtsbereinigungsgesetz“ erklärt. „Wenn jetzt immer noch nichts geschieht, wird es für die Opfer der NS-Militärjustiz bald zu spät“, meinte Bremens Justizsenator Volker Kröning bei der Einweihung des Büros der Bundesvereinigung.

Bis in die 80er Jahre hinein hatte sich die bundesdeutsche Geschichtswissenschaft mit den „Drückebergern“ und „Feiglingen“ überhaupt nicht beschäftigt, berichtete der Barfuß-Hostoriker Fritz Wüllner. In vielen Archiven war der engagierte Rentner als erster aufgetaucht, um die Urteile zu sichten. Das erste „Standard

werk“ war von dem ehemaligen Militärrichter Schwinge, in der Bundesrepublik dann Rektor der Uni Marburg, geschrieben worden — eine Apologie der Richterzunft und „Geschichtsfälschung“, wie Wüllner nachgewiesen hat. Seit wenigen Jahren befaßt sich inzwischen das dem Verteidigungsministerium unterstehende Militärhistorische Institut Freiburg mit der NS-Justiz.

Zum ersten Mal ist im September auch ein Urteil des Bundessozialgerichtes ergangen, nach dem der Witwe eines wegen Fahnenflucht zum Tode verurteilten Soldaten eine „Hinterbliebenenrente“ zusteht. Das Landessozialgericht Baden-Württemberg hatte in der bisherigen Rechtstradition den Rentenanspruch zunächst abgelehnt, weil nicht zu erkennen sei, wieso das Todesurteil Unrecht sei. Mit Hinweis auf die neueren, erst 40 Jahre nach dem Ende der Nazizeit begonnenen Forschungen hatte das Bundesgericht nun die Militärgerichtsbarkeit als „verlängerten Arm“ des NS-Regimes bezeichnet, die Wehrgerichtsbarkeit habe der Durchsetzung eines völkerrechtswidrigen Krieges gedient. Nur in Ausnahmefällen seien Urteile der NS-Militärjustiz gerechtfertigt gewesen, etwa wenn ein Soldat einer Mordtat überführt worden sei. Das Kasseler Urteil kehrt 46 Jahre nach Kriegsende die Beweislast um, Opfern der Militärjustiz steht nun Entschädigung zu.

In der Geschäftsstelle der Bundesvereinigung ist in den kommenden Wochen eine Ausstellung über einen Bremer Deserteur Rudolf Jacobs zu sehen, der nach Italien zu den Partisanen ging. K.W.

Bundesvereinigung der Opfer der Militärjustiz, Bgm-Smidt-Str. 5a, Tel. 13853 und 302556