: RÜGEN - EIN SOMMERHIT
■ Die unaufhaltsame Wiederbelebung einer Touristenhochburg
Die unaufhaltsame Wiederbelebung einer Touristenhochburg
VONCHRISTELBURGHOFF
An der Zimmervermittlung im Seebad Binz hängt ein großes Schild mit „Ausgebucht“. Privatquartiere, Ferienwohnungen, Hotels — alles ist belegt. Auf Rügen, nunmehr Gesamtdeutschlands größter Insel, sind die Touristen eingefallen. Der Boom, der bereits für 1990 prognostiziert wurde, dann aber zum größten Erstaunen der Rüganer ausblieb, findet — genauso unerwartet — im Sommer 1991 statt. Auf den zahlreichen Campingplätzen werden mangels Stellflächen nicht allein Wohnmobile abgewiesen, manchmal trifft es sogar einzelne Wanderer oder Radler mit leichtem Gepäck.
Was lockt so viele Menschen an die Ostsee? Seit Kaisers Zeiten hält sich das Klischee vom mediterranen Ambiente. Viel mehr als das ist Rügen ein interessantes touristisches Neuland für Wessis. Besonders in kleinen Landgaststätten führen einander wildfremde Menschen die anregendsten Gespräche über denkwürdige Tageserlebnisse, den Zustand und die Perspektiven der östlichen Gebiete. Wie zu den alternativ- touristischen Pionierzeiten tauschen Radler und Wanderer, über Karten gebeugt, die besten Tips über problemlose Routen und die schönsten Plätze aus. Soll man bereits von Rostock aus über den Darß fahren und in Zingst ein Boot nehmen oder lieber über den Rügendamm bei Stralsund anreisen? Soll man erst in die Stubbenkammer gehen oder das Hiddenseer Kulturprogramm vorziehen?
Rügen lockt vor allem mit seiner Wasserlandschaft, seiner Mischung aus Inseln, Halbinseln, Seen, Steilküsten und Sandstränden, seinem verblichenen Seebädercharme und seiner kulturellen Vergangenheit. Einmal um die Insel zu radeln verspricht neben ereignisreichen Einblicken in den schnellen Wandlungsprozeß vom Ossi-Land in eine Touristenhochburg auch recht selten gewordene Naturerlebnisse, denn was schützenswert schien, steht bereits unter Naturschutz oder wurde im letzten Jahr noch zum Nationalpark erklärt.
Die kleine Insel Hiddensee im Westen ist berühmt. Der Ruch eines Künstlerrefugiums zieht als kultureller Dauerbrenner Scharen von Menschen auf das abgeschiedene Eiland. Gerhard Hauptmanns Gedächtnisstätte, sein Grab, sein Ruf als der Dichter und Denker, der sich während der dreißiger Jahre, als Deutschland kochte, in seiner Sommerresidenz unbeirrt und unbehelligt „mit den Grundfragen seiner Epoche auseinandersetzte“, ist der Dreh- und Angelpunkt eines Hiddensee-Besuchs.
Ländliches Idyll außerhalb der Zeit
Das Ausflugsboot der Tagesgäste passiert erst hohe Schilfgürtel, bis es langsam im kleinen Hafen von Kloster anlegt. „Es ist ja wirklich wie ein Paradies“, vermeldet eine Besucherin vom Boot aus. Tatsächlich läßt sich eine leichte Irritation, auf Hiddensee eine Rarität aus einer weltfremden Zeit betreten zu haben, nicht einfach beiseite wischen. Dafür ist die ländliche Idylle, die einen erwartet, viel zu intensiv. Überbordende Bauerngärten und schnatternde und gackernde Nutztiere stellen die Kulisse für unerwartet schnuckelige Häuschen und Feriendomizile und etliche gepflegte Gaststätten. Weder Pkw-Verkehr noch Alltagshektik stören die Flanierenden auf ihrem Gang quer über die Insel.
Eine Insel-Buchhandlung markiert augenfällig die Bedeutung, die Hiddensee auch zu Ost-Zeiten als ausgesuchtes Urlaubsrefugium für „Kulturschaffende“ eingenommen hat. Man ist versucht, in solch unverbrauchten ländlichen Konserven wie Hiddensee die stete Kraftquelle jeweils herrschender deutscher Kultur und Vergeistigung zu vermuten. Was diesen gehätschelten Sommersitz bereits zu Vorkriegszeiten als Ort der Abgeschiedenheit jenseits aller weltlichen Fährnisse auszeichnete, hat er sich selbst unter den völlig veränderten Bedingungen der vergangenen Jahrzehnte auf merkwürdig unberührte Weise bewahrt.
Als leichter Schock dagegen wirkt Schaprode auf der gegenüberliegenden Rügener Festlandseite, denn in dem Fährhafen haben die Hiddensee-Besucher ihre Pkws, Wohnmobile und Caravans zurückgelassen und den kleinen Ort aufs brutalste zugeparkt. Die verkehrsfreie Hiddensee-Idylle geht zur Zeit auf Kosten der Schaproder.
„Abenteuerlich“, bemerkt ein westlicher Camper und grinst mehrdeutig im Hinblick auf die sanitären Verhältnisse. An einen gewissen Komfort gewöhnt, verzweifeln etliche westliche Besucher bereits auf der Suche nach warmem Wasser. Nonnevitz, hoch im Norden, hat immerhin einen hölzernen, rosafarbenen Badewagen für die vielen hundert Camper aufzuweisen. Auf anderen Plätzen scheitert die Warmwasserversorgung beispielsweise noch an den nötigen Stromkapazitäten, aber auch an der Angst mancher Platzbetreiber, daß nicht zahlende Besucher sich den Genuß einer warmen Dusche erlauben könnten. Was ist „erlaubt“ und was nicht? Diese Frage stellt sich auf Rügen häufiger. Gestreßte Ossis maßregeln gern in unkalkulierbarer und barscher Weise das freizügigere Verhalten von Wessis, und aus gegenseitigen Provokationen bauen sich schnell Verunsicherungen und eine spannungsgeladene Atmosphäre auf.
Nonnevitz, zum Freizeitzentrum Bakenberg gehörig, ist im Vergleich zu Hiddensee das unfeine Pendant. Seit nunmehr dreißig Jahren tummelt sich hier das Volk inmitten weitläufiger Kiefernhaine und entlang der Steilküste mit ihren Sandstränden. Erst an der nordöstlichen Spitze Rügens, am Cap Arkona, bricht der Fremdenverkehr neueren Datums mit seinen Sightseeing-Touren wieder ein.
Das Cap ist auch der äußerste nordöstliche Zipfel Deutschlands und gehört deshalb zum Pflichtprogramm eines Inselbesuches. Schon in den frühen Morgenstunden reiht sich hier Bus an Bus. Auf dem Höhenpfad entlang der Steilküste drängeln sich die Besucher, um einen Blick über den Rand der deutschen Welt und seinen äußersten Vorposten, einen riesigen Findling, hinaus aufs weite Meer zu werfen.
C.D. Friedrich malte die Rügener Kreidefelsen mit Ausblick aufs Meer, als beschauten nicht mehr die Betrachter die Naturszenerie, sondern würden umgekehrt von der übersinnlich-mächtigen Kraft der Natur erfaßt.
Big eye is watching you — und zieht die Betrachter unmerklich in einen perspektiv- und zeitlosen Raum hinein. Friedrich inszenierte nicht allein die Landschaft, mit seiner Maltechnik nahm er darüber hinaus eine Bestimmung ihres „Wesens“ als etwas Übersinnliches vor. Sein Zeitgenosse J.W. Goethe ordnete Friedrichs Werke unter „neu-deutsch religiös-patriotische Kunst“ ein und mokierte sich über ihren Mangel an „Männlichem“. „Es fehlt den Bildern eine gewisse zudringliche Kraft“, ließ er Eckermann notieren.
Caspar David Friedrichs Ausguck
Seit im frühen 19.Jahrhundert große Teile der nationalrevolutionären Bewegung des Vormärz den germanischen Mythos rezipierten, vernebelt auch immer mal wieder der narkotische Dunst des naturreligiösen Mystizismus die deutsche Landschaft. Mit den Kreidefelsen hat Friedrich die Insel Rügen für immer in eine eindeutig verklärte Szenerie versetzt. Aber Rügen bietet dafür auch reichlich Ansatzpunkte. Die Wenden huldigten noch im 12.Jahrhundert — unangefochten von christlichen Bekehrern — auf Kap Arkona ihrem vierköpfigen Gott Swantevit. Die prähistorischen Zeugnisse reichen bis in die Altsteinzeit zurück. Mit den überreich vorhandenen Feuersteinen standen den frühen Siedlern die nötigen Arbeitsmittel zur Verfügung.
Rügen ist übersät mit Hügel- und Pfenniggräbern. War Rügen vielleicht auch die Kultinsel der legendären germanischen Göttin Nerthus- Herta? Der düstere und tiefe Herta- See im Wald der Stubbenkammer mit seinen Opfersteinen könnte auch der Ausgangspunkt und das Endziel der Frühjahrsumzüge gewesen sein, auf denen der verhüllte Ochsenkarren der Göttin schließlich samt Vieh und Dienern im See „gebadet“, d.h. versenkt wurde. Man mochte sie dort regelmäßig in die Unterwelt zurückgeschickt haben.
Die Stubbenkammer mit den Kreidefelsen ist mittlerweile zum Nationalpark Jasmund erklärt worden. Am späten Nachmittag, wenn die Besuchermassen abebben, fliegen viele Arten Wasservögel und vor allem zahllose Schwäne die Küste an und schaukeln dort in den letzten Sonnenstrahlen auf dem Meer. Ein Blick von Friedrichs erhöhtem Standort aus bringt nicht allein das Meer wieder perspektivisch nahe heran — fast wundert es einen, wie belebt die ganze Szenerie in Wirklichkeit ist.
Verblichener Seebäder-Charme
Im Osten der Insel liegen auch Rügens legendäre Seebäder Juliusruh, Saßnitz, Binz, Sellin und Göhren. „Völlig heruntergekommen“, ist die einhellige Meinung über ihren Zustand. Die meisten der wilhelminischen Zuckerbäckerbauten sind kurz nach der Jahrhundertwende entstanden und gammeln seit einigen Jahrzehnten still vor sich hin. Die mehrfach übermalten Schriftzüge zahlloser, ehedem prosperierender Firmen lassen nur erahnen, welche gesellschaftliche Bedeutung beispielsweise die Hafenstadt Saßnitz einmal hatte. Die Fischrestaurants im Hafen sind inzwischen überlaufen, und es fahren auch wieder Boote nach Trelleborg und Bornholm. Der Tagesausflug nach Bornholm ist der Renner dieser Saison.
Während sich die ländlichen Idyllen wie Hiddensee oder auch das Dörfchen Vitt der ungeteilten Zuwendung der SED-Oberen erfreuten, übergaben sie die verspielten Seebäder-Villen dem demonstrativen Verfall. Das barocke Schloß im fürstlichen Putbus wurde kurzerhand abgerissen. Dabei sind die Ferienzentren aus den DDR-Zeiten nicht minder „heruntergekommen“.
Das morbide Ambiente wird letztlich nur noch von den kasernistischen Nazi-Bauten in Prora übertroffen. Als riesiges, pompöses „Kraft durch Freude“-Feriengelände geplant, wurden die Gebäude zu Kriegsbeginn in Kasernen umgewandelt und später von der Nationalen Volksarmee belegt. Prora — unlängst noch Sperrzone — ist jetzt frei begehbar. Es ist gespenstisch leer. Wenn die Pläne der Rüganer Gestalt annehmen, werden sich an Rügens Ostküste künftig nicht allein die Seebad- Nostalgiker und die Fans sozialistischer Plattenbauweise in ihrer jeweils maßgeschneiderten Umgebung wohlfühlen können, sondern auch die Freunde nationalsozialistischer Baukunst, denn Prora soll dem Tourismus erschlossen werden.
Zukunftsmusik
Kolonialisierung oder Modernisierung? Welche Lesart auch immer auf Rügens unaufhaltsame Wiederbelebung in eine Touristenhochburg zutrifft und die vielfach gereizte Stimmung erklärt — nach dem unerwarteten Run sehnen viele Rüganer fürs erste ein schnelles Ende der Saison herbei.
Punktuell hat die Entwicklung schon solche exotischen Drinks wie „Caipirinha“ hervorgebracht. Allein westliche Cocktailkenner werden damit etwas anfangen können. Wurden bislang die Bürgersteine rigoros um 22 Uhr hochgeklappt und Nachtschwärmer an ihre Feuerstellen am Strand verbannt, so experimentieren etliche Gaststätten in den Seebädern jetzt mit „open end“. Nach Ablauf der gewohnten Sperrstunde sind die Orte aber immer noch wie leergefegt, denn das biedermännische Gros der Gäste geht in der Regel früh schlafen.
Die „Engpässe“ dieser Saison werden im nächsten Jahr in vielerlei Hinsicht behoben sein, wenn zum Beispiel während der Wintermonate die geplante touristische Informationszentrale aufgebaut wird und wieder eine größere Bettenkapazität zur Verfügung steht. Im Vergleich zu früheren Jahren konnte Rügen statt 105.000 nur 70.000 Betten anbieten. Im Hinblick auf die präferierte „sanfte“ Tourismusentwicklung soll sich das Angebot auf 100.000 einpendeln und sich nicht nur auf die Urlaubszentren konzentrieren, sondern verstärkt „Urlaub auf dem Bauernhof“ miteinschließen. Denn Rügen hat außer Strand, Sand und Seen selbst die kleinteiligen, gefälligen Landschaftselemente deutscher Mittelgebirge aufzubieten.
Aber das Thema ist noch nicht ausgereizt. Die Fürsprecher einer gemischten Ökonomie machen sich für die Ansiedlung einer westlichen Werft in der Mukraner Bucht zwischen Saßnitz und Binz stark. Den verwöhnten „sanften“ Touristen wird die Industrie in der Badebucht mitnichten zusagen. Bereits jetzt ist die Insel mit dem Kfz-Verkehr total überlastet.
Was den vielen Radlern so verführerisch erscheint, nämlich Touren über die vielen schönen Alleen mit ihrem dichten alten Baumbestand und entlang der Küstenstraßen, stellt sich wegen der hohen Verkehrsbelastung schnell als ein Horrortrip heraus. Ob jedoch die Rüganer mit dem sanften Tourismus so weit gehen werden und ihren Festlandsdamm für den privaten Pkw-Fahrer einfach sperren, ist mehr als fraglich.
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