Schlag auf den Kopf

„Vistara — Die Architektur Indiens“, eine Ausstellung in Berlin  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Ein Glücksfall: Vistara — Die Weite, eine Ausstellung über indische Architektur aller Gattungen und Zeiten hatte noch geschlossen, als ich ins Haus der Kulturen der Welt kam, das früher schlicht Kongreßhalle hieß. So war also Zeit, mich mit dem Katalog ans Ufer der Spree zu setzen, wo die kleinen Dampfer ablegen, von denen aus man Berlin sehen, richtig sehen, ja vielleicht überhaupt erst erkennen kann: Berlin-Mitte in einer dreiviertel Stunde. Die Gebäude treten zurück, eine Weite tut sich auf, die nicht Weite = Entfernung ist, und die Pläne treten wieder in Erscheinung, die vollendeten und die Fragment gebliebenen, die revidierten und die zerbombten. Aus dem Geist des Urmenschen, heißt es in den Veden (den ältesten hinduistischen Schriften), seien die Wasser geboren.

Die Vorstellung einer kosmischen Analogie des Menschen und der Welt gehört offenbar zu den wichtigsten Ausgangspunkten der indischen Architektur, deren rekonstruierbare Anfänge in sakralen Bauten liegen. Wenn der Mensch, wie es heißt, im Zentrum des traditionellen Bauens gestanden habe, dann ist offenbar nicht die humanistische Idee gemeint, wonach die Welt dem Menschen zufällt wie ein großer Baukasten, sondern fast das Gegenteil. Beginnend mit der Fingerbreite, wird der vedische Altar aus dem Zentrum heraus vermessen, die Elemente sind begrenzt, nach „Ellen“ und „Faden“ zu beschreiben, die Zahl der Ziegel, die Schichten und die Räume werden nach ihrer allegorischen Beziehung zur Welt festgelegt und den Göttern gewidmet.

Himmel und Erde sind die Pole der christlichen Welt, die aufgefaltet wurde, um der Perspektive Raum zu geben, bis der Horizont zuwuchs und die Gegenstände sich dem Auge bis zu ihrer unrevidierbaren Zerteilung näherten; Mensch und Gegenstand, im Kubismus schon kaum noch zu unterscheiden. Überzeugende Bilder von Städten gibt es nicht mehr.

Die vedischen Altare, die nur in der Literatur überlebt haben, sind drei und haben folglich drei kosmische Referenzen: den Himmelsraum, die irdische Welt und den Luftraum; eigenartig: Himmelsraum und Luftraum. Und der Mensch ist also ein Stellvertreter der Vertikale. Nach seiner Fingerbreite wird der Feueraltar ausgemessen; denn er, der Mensch, soll dort geopfert werden. Eine Architektur, die mit der kollektiven Überwindung des Tötungstabus beginnt, von innen nach außen.

Architekt Charles Correa, der sich als Spezialist bei der Entwicklung kostengünstiger Bauweisen für Länder der „dritten Welt“ einen Namen gemacht hat, ist verantwortlich für die Ausstellung und den Katalog. Was mit den Menschen passiert, wenn sie einen Paradigmenwechsel ihrer Kultur erleben, nennt Correa vistara, eine bestimmte Erfahrung von Weite: „Für indische klassische Musiker, Sänger und Tänzer ist die Expansion nach außen in den Raum immer auch gleichzeitig eine Reise nach innen in unser eigenes Selbst. Diese Expansionen, diese vistaras zu erleben, vertiefen unser Bewußtsein.“

Drei Phasen unterscheidet Correa in der indischen Bautradition und Architektur: die vedische, von der schon die Rede war, deren Grundlage die vastu-purusha-mandalas sind, magische Diagramme, die das Bauen offenbar nicht als Plan im engeren Sinn, sondern als Vorgehen oder Ritual beschreiben. Die zweite Phase ist der Einfluß des Islam: „Jetzt wird der Kontext des Menschen zum einen als beurteilbare Beziehung zu einer allgewaltigen Gottheit und zum anderen als Sozialvertrag (wie im christlichen Gebot: Liebe deinen Nächsten) gesehen.“ Mit seiner symbolischen Besetzung von Gärten (als Paradies auf Erden) und der doppelachsigen Symmetrie bringt dieser Einfluß eine Architektur, die man abendländisch als „feudal“ beschreiben würde, das Grabmal des Humayun aus dem 16.Jahrhundert und das Taj Mahal aus dem 17. (die Fotografie zeigt es — wie schon so oft gesehen und immer wieder betörend — in unglaublich mildem Abendlicht, während die Parkanlage gerade von der blauen Stunde in Besitz genommmen wird).

Die letzte große Veränderung bringen die Europäer, als Eroberer, Vernünftler, Unterdrücker, Eklektizisten. Den nachhaltigsten Eindruck hat offenbar Le Corbusier hinterlassen, der zwischen 1952 und 1960 einige öffentliche Gebäude in Chandigarh, der damals neuen Hauptstadt des Panjab, gebaut hat. Le Corbusiers Betonvisionen waren, laut Nehru, „das, was Indien in so vielen Bereichen braucht, ein Schlag auf den Kopf“. Sein langjähriger Mitarbeiter Balkrishna V. Doshi rechtfertigt ebenfalls den folgenschweren Einbruch des Individuellen, für den Le Corbusier steht. In einem sehr komplexen, lebhaften Interview schildert Doshi den Meister, wie er Bauplätze begeht, in Modelle überraschend Schnitte macht und überhaupt, wie er war. Doshi vergleicht ihn mit dem Puristen der Moderne, Louis Kahn: „Als Lou in Indien war, aß er nur gekochten Fisch und Kartoffeln — sonst nichts. Während Le Corbusier mich in Delhi auf direktem Weg mit zum Moti Mahal nahm, Tanduri-Hühnchen und alle möglichen Moghlai-Gerichte bestellte und alles enorm genoß.“

Nun war tatsächlich die Mittagspause vergangen, an der Spree, und hinter mir die Kongreßhalle, die die Berliner „schwangere Auster“ nennen, aber sie sieht eigentlich aus wie ein Wasservogel, der seine Flügel spreizt und dennoch nicht fliegen kann. Vor ein paar Jahren ist sie, wie man weiß, eingestürzt und hat einen Journalisten des Senders Freies Berlin unter sich begraben. Dann wurde sie wieder aufgebaut und umbenannt, bekam ein Logo von Neville Brody und ist seitdem das deutsche Hauptamt für den kulturellen Import fremder Kulturen, Mindestentfernung dreitausend Kilometer.

Die Ausstellung besteht aus zwei Teilen, einem pompöseren und einem etwas schlichteren. Man sieht die Fotografien mehr oder weniger bekannter Bauten, von den Tempeln zu den Lehmhütten, vom Künstleratelier bis zum Housing Project für die Waisen von Bhopal; einige Pläne, einige Modelle. Für die Präsentation eines jeden Bauwerks sind die massiven Stellwände mit Stoffen jeweils unterschiedlicher Farben bezogen worden, das macht bis zu drei Wandfarben in einem Raum. Es gibt einige läppische Versuche, die Struktur der Opferstätte oder die Veranda eines Kolonialisten zu inszenieren.

Die Qualität der Fotos ist fast durchweg mäßig, die der Pläne schlecht (zu klein, Unschärfen, unlesbar); die Modelle stehen fast am Boden, so daß man sich hinlegen muß, um eine Vorstellung der Fassadenansichten zu bekommen. Es kommt nicht einmal eine Ahnung auf von dem, was Architektur überhaupt oder in Indien sein kann (diese Magie der Miniaturisierung, die passabel eingerichtete Architekturausstellungen ausstrahlen); selbst von den jüngsten Architekten sind keine Originalzeichnungen zu sehen.

Die Ausstellung ist eine einzige Kapitulation vor der Architektur, und zwar der der Kongreßhalle, deren düstere Deckenkonstruktion ständig gegenwärtig ist, abgesehen von den runden Betonpfeilern und abgetretenen Fußbodenbelägen. Die Ausstellung erinnert — ärmlich und unaufmerksam, mit peinlichen Highlights und einer Flut visuellen Gerümpels — an den pädagogischen Muff der fünfziger Jahre, als man sich noch gefälligst für alles zu interessieren hatte. Lieferant ist das Ministry of Human Ressource Developement, Department of Culture, New Delhi. Empfänger ist eine kulturelle Institution eines der noch immer reichsten Länder der Erde; es hätte nicht geschadet, ein wenig auszuhelfen.

Vistara — Die Architektur Indiens. Haus der Kulturen der Welt, Berlin, bis zum 10.November, Dienstag bis Donnerstag 14 bis 18Uhr, Samstag und Sonntag 10 bis 18Uhr. Vom 18.Januar bis zum 1.März in der Weimarhalle, Weimar, täglich 10 bis 18Uhr. Katalog in der Ausstellung 34DM, verlegt bei Hatje.