Kein Text erlaubt den Verrat

Ein Gespräch mit der französischen Regisseurin Ariane Mnouchkine  ■ Von Caroline Auret

Vom 21. bis zum 29. September gastiert Ariane Mnouchkines ThéÛtre du Soleil auf dem DEFA- Gelände in Babelsberg bei Potsdam. Wir berichteten bereits im Juli über „Les Atrides“, als die französische Truppe beim „Theater der Welt“ in Essen gastierte. Die Vorstellungen in Babelsberg sind seit langem ausverkauft; die beglückten Karteninhaber und sonstigen Platzanwärter erwarten drei in sich geschlossene zweistündige Aufführungen: die Aischylos-Trilogie der „Atriden“ („Agamemnon“, „Die Cheophoren“ und als letzter — noch nicht vollbrachter Teil — „Die Eumeniden“) ist „Iphigenie auf Aulis“ von Euripides vorangestellt. Interviewt wurde Ariane Mnouchkine, während des Gastspiels in Essen, von Caroline Auret, die das Gespräch auch für uns übersetzt hat.

taz: Ariane Mnouchkine, seit rund zwanzig Jahren greifen Sie politische oder historische Themen auf. Was hat sie veranlaßt, „Die Atriden“ zu wählen?

Ariane Mnouchkine: Hören Sie, ich glaube, es ist schwierig, Theater zu spielen, ohne jemals Lust zu bekommen, irgendwann eine der großen Quellen des Welttheaters zu inszenieren, die die Griechen nun einmal sind. Man weiß am Ende nie genau, was einen dazu veranlaßt hat. Ich glaube, es sind einfach so Momente. Man weiß nie genau, wie man so schön sagt, ob wir das Stück wählen oder von ihm ausgewählt werden. Manchmal ist die Triebfeder die Angst. Man liest einen Text, der Text macht einem Angst im positiven Sinne, das heißt, er macht einen betroffen, beunruhigt, erscheint erdrückend. Und schlagartig hat man Lust, diesen Berg zu besteigen.

Gibt Ihnen die Verschmelzung von Mythos und Geschichte mehr schöpferische Freiheit für die Regie?

Paradoxerweise sind es die großen Texte, die einem die größte Freiheit geben und gleichzeitig einem den größten Respekt abverlangen, gleich, ob die Autoren lebend oder tot sind. Das sind die echten Bühnentexte. Ich denke, wenn ein Text wirklich ein Bühnentext ist, dann gibt er einem Freiheit, aber es ist eine Freiheit, die in die Tiefe geht. Er gibt einem die Freiheit zu suchen, aber er gibt einem nicht die Freiheit, etwas Beliebiges zu machen. Keine echte Textvorlage wird einem so etwas erlauben. Kein Text erlaubt den Verrat. Also, wenn ich Freiheit sage, meine ich wirklich Freiheit und nicht Verrat am Text.

Ihre Äußerung klingt fast wie eine Bezugnahme auf das italienische Sprichwort „traduttore, traditore“ (Übersetzer, Verräter; Anm. d. Red.).

Nein, das ist etwas anderes. Ich denke, daß tatsächlich ein „traduttore“ stets ein wenig „traditore“ ist. Denn man kann noch so textgetreu sein, sich noch so gründlich mit dem Sinn des Textes auseinandersetzen — und ich glaube meinerseits, daß ich gründlich gewesen bin, mit Hilfe von zwei großen Gräzisten wie Jean Bollack und Pierre Judet de la Combe, die kaum pingeliger, genauer, gewissenhafter hätten sein können, die zugleich Suchende und Wissenschaftler, Kenner und Kennende sind —, trotz all dieser Vorsichtsmaßnahmen gibt es stets einen Augenblick, wo man sich sagt: „Ach, im Griechischen ist es eher so oder so gemeint, und im Französischen ist es nur dies oder jenes.“ Damit meine ich nicht die Übersetzung des Textes, das heißt der Wörter, sondern die Übersetzung, das heißt die Umsetzung auf der Bühne, da ein Bühnentext dafür gemacht ist, daß er auf der Bühne umgesetzt wird. Ein Verrat wird dabei nicht begangen. Der Text ist nicht dafür geschrieben worden, daß er ins Französische übersetzt wird. Kein Text wird jemals geschrieben, um übersetzt zu werden. Also gibt es an dieser Stelle schon einen kleinen Verrat. Im Augenblick dagegen, in dem die Schauspieler auf die Bühne steigen, um Theater zu spielen, sind sie nur noch Vollstrecker des Auftrags, Vermittler der Botschaft dieses Textes. Und dieser Text für die Bühne verlangt das Spiel. Der Text ist — wie alle großen Bühnenwerke — niemals abgeschlossen, solange er nicht vom Schauspieler aufgeführt worden ist.

Inwiefern war diese philologische Leistung nützlich — in der Praxis — für die Regie?

Ich will präzise sein. Hélène Cixous hat Die Eumeniden übersetzt, die jetzt inszeniert werden. Sie hat bei den beiden anderen Übersetzungen nicht mitgewirkt. Sie hat die Übersetzung des letzten Stücks der Trilogie vollständig übernommen.

Die Aufgabe des Philologen liegt darin, den ursprünglichen Sinn so getreu wie möglich wiederzugeben, das heißt die vielen Interpretationen zu entfernen, die seit Jahrhunderten wie Sedimentschichten die Texte überlagern. Was das Übersetzen anbelangt, das heißt die stundenlange Auseinandersetzung mit den Wörtern, das hilft ungeheuer. Was mich persönlich anbelangt, so hat mir das bereits bei den Shakespeare-Aufführungen geholfen. Es gibt eine Verantwortung für den Text, der man sich nicht entziehen kann, weil man ihn trägt, weil man ihn — wie eben gesagt — zu übersetzen versucht. Danach fühlt man sich, bei Gott..., endlich weiß man, was es bedeutet. Man nimmt an, daß man die Worte verstanden hat. Also man kann nicht mehr der Versuchung anheimfallen, sie etwas anderes aussagen zu lassen.

Da wir eben von Übersetzung und Schauspiel gesprochen haben, möchte ich auf Klytämnestra zu sprechen kommen. Klytämnestra wirkt in dieser Inszenierung sehr dezidiert, mutig, aber auch im größten Teil von Agamemnon etwas männlich in der Erscheinung. Ist dies gewollt oder hat es sich durch die Übersetzung oder die Inszenierung einfach ergeben? Hat es mit den abfälligen Bemerkungen des Chores über Frauen zu tun?

Zunächst sehe ich die Begriffe männlich und mutig nicht als bedeutungsgleich an. Ich denke nicht, daß es eine männliche Seite bei Klytämnestra gibt. Es gibt bei ihr eine mutige Seite. Mut gehört gleichermaßen zu beiden Geschlechtern. Dazu muß man nicht den Weg der Männlichkeit gehen. Daß sie als Knabe oder Mann gekleidet ist, das heißt als Kämpfer oder Kämpferin, das ist richtig. Was die Bemerkungen bei Aischylos anbelangt, die oft Frauen gegenüber abfällig sind, so sind sie m.E. nur Ausdruck der Gedankenwelt der Epoche. Ich bin nicht sicher, daß dies immer das Denken des Aischylos ausdrückt. Ein Dichter ist da, um sowohl das Denken seiner Zeit zu vermitteln als auch darüber zu urteilen. Was heißt urteilen? Es durchdringen!

Ich persönlich denke, daß Euripides und Aischylos, wenn auch schwächer, Klytämnestra verteidigen. Ich persönlich meine, daß Klytämnestra eine Figur ist, die besonders human, tragisch, ergreifend, anziehend und verständlich ist. Sie ist gar nicht die brüllende, grausame, Megäre, die man so oft klischeehaft darstellt. Das ist eine Gestalt, die ihre Widersprüche hat, deren Tat vielleicht unverzeihlich, aber durchaus verständlich ist. Wenn man Iphigenie sieht, versteht man schließlich, warum Klytämnestra nachher Agamemnon umbringt! Der Chorführer, der selber mit Klytämnestra so streng ist, gibt irgendwann vor den Leichen Kassandras und Agamemnons auf und sagt: „Wer hat recht, wer unrecht?“ Ich meine also, Sie sehen, es ist nicht übertrieben. Der Text ist so.

Wieviel Zeit hat Ihr Ensemble zur Vorbereitung der drei Aufführungen gebraucht?

Das Ensemble hat für alle drei Aufführungen, das heißt „Iphigenie“, „Agamemnon“ und die „Choephoren“, zwischen siebeneinhalb und acht Monaten gebraucht.

Sie kommen zu den Berliner Festwochen mit den Atriden. Aber es war auch von einem Projekt namens Voile noire, voile blanche (Schwarzes Segel, weißes Segel) die Rede. Handelt es sich um eine Anspielung auf Tristan und Isolde oder um ein anderes Projekt mit der Résistance als Thema?

Nein, nein, überhaupt nicht. Selbstverständlich ist der Titel eine Anspielung auf Tristan und Isolde und auf Aeneas. Aber das ist keineswegs die Aufführung über die Résistance. Es ist ein Bühnenstück von Hélène Cixous, das die Themen und Figuren der Anna Achmatowa, der Nadeschda Mandelstam und der Lydia Tschukowskaja zum Gegenstand hat. Es handelt sich um einige Tage dieser Frauen in den fünfziger Jahren. Dieses Stück werden wir demnächst inszenieren. Das Stück über den französischen Widerstand kommt noch, aber etwas später.

Ihre Aufführungen erwecken den Eindruck eines offenen Theaters, eines publikumsorientierten Theaters im Gegensatz zum psychologischen oder sogar minimalistischen Theater, wie wir es ja hier in Deutschland teilweise in den letzten Jahren erlebt haben. Dies setzt eine andere Konzeption des Theaters voraus, versteht die Funktion des Theaters anders. Welche Funktion räumen Sie dem Theater in dieser Gesellschaft ein, die jetzt lauter Umwälzungen erlebt?

Die Welt, ich meine die Gesellschaft, ist ständig im Wandel, und das Theater muß sich mit der im vollen Wandel begriffenen Gesellschaft immer irgendwie auseinandersetzen. In solchen Zeiten ist Theater am besten. Ich bin mir nicht sicher, ob das Theater in den gesättigten, in den friedlichsten Ländern das beste ist. Damit will ich nicht sagen, daß es dem Theater in unterentwickelten Ländern, in Ländern, wo Hungersnot herrscht, oder — noch schlimmer — unter einer Diktatur gutgeht. Ich denke, daß Theater einfach Leben, Demokratie braucht. Es braucht auf jeden Fall, sagen wir, Mittel zum Ausdruck der Gedanken, es braucht Momente, in denen die Dinge sich sagen lassen oder gesagt werden können. Gleichzeitig braucht man Verantwortung, um diese Dinge zu einem bestimmten Zeitpunkt zu sagen. Dort, wo man alles unbeschwert sagen kann, gleich was und gleich wie, in diesem Augenblick ist es schlicht Provokation, ja sogar Betrug.

Ich meine, zur Zeit müßte das Theater ein Quentchen besser sein, als es ist, angesichts der Ereignisse all der Dinge, die es zu erzählen gibt.

Dankeschön, Ariane Mnouchkine!