Potsdamer Aufbruch der Bürgerbewegungen

Unter dem Motto „vollenden und aufbrechen“ wollen sich die Bürgerbewegungen der ehemaligen DDR — Demokratie Jetzt, Initiative Frieden und Menschenrechte und Teile des Neuen Forums — an diesem Wochenende zu einem Bündnis zusammenschließen und damit die Zersplitterung der Oppositionsgruppen beenden. Gegenüber der Grünen Partei sehen sie sich als Koalitionspartner, der sich nicht nach dem Muster der Altparteien vereinnahmen lassen will.  ■ VON MATTHIAS GEIS

Ende 1990, als die Bürgerbewegungen der DDR von den fusionierten West-Ost-Parteien längst an den Rand gedrängt worden waren, entwarf Konrad Weiß den Gruppen eine klägliche Perspektive. „Sektierertum, Politikunfähigkeit und mangelnder Wille zur Macht“ könnten die Bürgerbewegungen schnell zu „Erinnerungsvereinen des Herbstes“ verkommen lassen. „Wir konnten zwar“ — so resümierte zur selben Zeit Jens Reich die kurze Erfolgsgeschichte — „die verrammelte Tür eindrücken, aber nicht den neuen Raum auffüllen. Wir konnten für einen kurzen Augenblick die Mehrheit des Volkes mit uns vereinen, so daß die Woge uns nach oben trieb und einen fundamentalen Umbau der politischen Verhältnisse erzwang. Danach verebbte die Welle und setzte uns ins ruhige Brackwasser eines Ostseebodens ab.“ Im Herbst 1990 erschienen die Bürgerbewegungen als Opfer ihres eigenen, überraschenden Erfolgs, den sie gegen die erodierte Partei- und Staatsmacht errungen hatten. Perplex mußten sie zusehen, wie andere mit zeitgemäßeren Angeboten ihren Erfolg weitertrieben.

Ende der organisatorischen Zersplitterung

Ironischerweise könnte jetzt der Einigungsvertrag dazu beitragen, daß sich die Zukunft der Bürgerbewegungen am Ende doch nicht im nostalgischen Reflex auf die halbe Revolution erschöpft. Wenn sich an diesem Wochenende in Potsdam Demokratie Jetzt, die Initiative Frieden

und Menschenrechte sowie Teile des Neuen Forums unter dem Motto „Vollenden und aufbrechen“ zu einem Bündnis zusammenschließen, setzt der deutsch-deutsche Staatsvertrag den Termin. Ein Jahr nach der Vereinigung, so die Regelung, müssen alle politischen Organisationen der ehemaligen DDR ihre Statuten dem bundesdeutschen Parteiengesetz angeglichen haben, wenn sie auch weiterhin bei Wahlen auf Bundes- und Landesebene teilnehmen und in den Genuß des Wahlkampfkostenvorschusses für die nächsten Europa- und Bundestagswahlen kommen wollen.

Während das lockere Wahl-Bündnis 90 unter dem sie zu den letzten DDR-Wahlen antraten und mit dem sie heute im Bundestag vertreten sind, die Eigenständigkeit der einzelnen Bürgerrechtsgruppen wahrte, bedeutet der Zusammenschluß jetzt das Ende der organisatorischen Zersplitterung. „Nichts Neues“, meint Wolfgang Ullmann lapidar. „Das Bündnis ist ein Projekt, das vom 4. Oktober 1989 stammt“, als man erstmals eine Zusammenarbeit vereinbarte, die sich jedoch in der Folgezeit angesichts unterschiedlicher Gruppentraditionen und politischer Vorstellungen nur unter internen Auseinandersetzungen und Reibungsverlusten vollzog. Wurde dieses Handicap in der ersten Phase des Umbruchs noch durch den spektakulären Erfolg der Bürgerbewegungen verdeckt, geriet es später zu einer Ursache ihres rapiden Einflußverlustes. Daß die Bürgerbewegungen in der DDR — anders als in Prag — die Machtfrage nicht stellten, als das übermächtig vorgestellte Regime nahezu widerstandslos zusammenbrach, gründet nicht zuletzt auch in

ihrer internen Zerstrittenheit. Freilich sind die traditionellen Konflikte innerhalb der Bürgerbewegung mit der Potsdamer Gründung nicht gelöst. Doch sie bedeutet die faktische Trennung unvereinbarer Positionen und markiert die Zäsur in einem unfruchtbar gewordenen Streit, dessen lähmende Wirkung an grüne Flügelkämpfe vergangener Tage erinnert. Während die kleineren, von Beginn an homogeneren Gruppen Demokratie Jetzt und IFM, die früh für einen Zusammenschluß plädierten, in dem neuen Bündnis aufgehen, glaubt der außerparlamentarisch orientierte Teil des Neuen Forums die ursprünglichen Intentionen der Bürgerbewegung nur jenseits des Bündnisses bewahren zu können. Was auf Seiten der Potsdamer Initiatoren als Konsolidierung und Konzentration der Bürgerrechtsbewegung gedacht ist und mit dem klaren Anspruch auf parlamentarische Vertretung und mögliche Regierungsbeteiligung einhergeht, erscheint vor allem im Berliner Neues-Forum-Kreis um Reinhard Schult, Bärbel Bohley und Ingrid Köppe als Abkehr von der reinen Lehre. Vordergründig wurde die Auseinandersetzung um parlamentarische versus außerparlamentarische Orientierung, Partei oder Bürgerbewegung und Systemopposition contra Reformperspektive geführt. Während die Reste des Neuen Forums an der Idee einer „linken Alternative“ festhalten, „sucht das Bündnis“ — so der im Vorfeld erarbeitete Grundkonsens — „die Zusammenarbeit in Sachfragen über Parteigrenzen hinweg.“

Öffnung der Politik für freie Meinungsäußerung der Bürger

Zur Partei freilich will sich auch das Bündnis nicht unumwunden erklären. Auf die Unterscheidung von juristischem und politischem Parteienbegriff wird Wert gelegt. Dem juristischen, so der Rechtsberater des Bündnisses, Karl Heinz Merkel, könne man sich getrost unterwerfen, weil seine Regelungen „eher technischer Natur“ seien, ein „Minimum an demokratischen Standards“ einfordere, ansonsten aber weitreichende Binnenautonomie gewährleiste. „Zum gemeinsamen politischen Handeln“, kürzt Ullmann ausufernde Debatten zum Thema Parteiengesetz gerne pragmatisch ab, „gehört, daß wir Bedingungen erfüllen, die uns auch in Zukunft wählbar machen.“

Die „verfaßte politische Vereinigung Bündnis 90“, so der Grundkonsens, versteht sich weiterhin als „Teil einer übergreifenden Bürgerbewegung, die ein Netz aus politischen Vereinigungen, gemeinnützigen Vereinen, Bürgerinitiativen, Arbeits- und Gesprächskreisen darstellt“. Die außerparlamentarische Initiative jedoch wird — anders als in den Anfangsdebatten der Grünen — nicht als Gegensphäre zur parlamentarischen Vertretung begriffen. Zwar gehören Formen direkter Demokratie zu den zentralen politischen Intentionen des Bündnisses; doch der Parlamentarismus wird — Ergebnis realsozialistischer Erfahrung — nirgends prinzipiell in Frage gestellt. Vielmehr gilt dem Bündnis „die parlamentarische Vertretung der Bürgerbewegung auf allen Ebenen“ als Voraussetzung für die „Öffnung der Politik für die freie Mitwirkung interessierter Bürger“.

Politik jenseits ideologischer Borniertheit

Die zentrale Frage, die auch das Gründungstreffen überschattet, ist das wechselseitiger Verhältnis zwischen dem Potsdamer Bündnis und den Grünen. Beide Seiten betonen, bislang eher wolkig, die notwendige Kooperation. „Aus Gründen programmatischer Nähe und politischer Vernunft“, heißt es im Grundkonsens, „ist eine Konkurrenz zwischen dem Bündnis 90 und den Grünen auszuschließen.“ Beide Seiten wissen, daß der Einzug in den nächsten Bundestag wohl nur gemeinsam zu erreichen sein wird. Doch wie die bislang eher schleppende Zusammenarbeit sich entwickeln wird und unter welchen Voraussetzungen eine Fusion beider Organisationen denkbar erscheint, ist bislang offen. Das Bündnis, so die Einschätzung von Wolfgang Ullmann, sei „ein Schritt auf dem Weg zum Projekt Bündnis 90/Grüne“. Doch Voraussetzung für eine gelingende Kooperation sei, daß beide Seiten sich „aufeinander zu reformieren“. Auch die Grünen müßten sich zu einer „flexiblen politischen Vereinigung“ entwickeln, die für ein „neues Konzept von Politik“ jenseits von Konfrontation und ideologischer Borniertheit stehe. Vond der Bürgerbewegung fordert er, sie müsse ihren begrenzten DDR-Horizont „verlernen“. FNL-Lobbyismus jedenfalls gehört nicht zum Bündnis- Programm.

Für bedingungslose Vereinnahmung durch die Grünen, so der allgemeine Konsens, ist das Bündnis nicht zu haben. Stephan Bickhardt, Mitbegründer von Demokratie Jetzt, sieht die Gründung deshalb als Stärkung der Verhandlungsposition gegenüber den Grünen: „Als einzelne Organisationen“, so resümierte er frühere Vereinnahmungsversuche, „waren wir immer leicht auseinander zu dividieren; erst im Bündnis können wir als ernst zu nehmender Verhandlungspartner gegenüber den Grünen auftreten.“

Am bundespolitischen Anspruch der Bürgerbewegungen scheiden sich derzeit noch die Geister der Bürgerbewegung. Während etwa Marianne Birthler, Bildungsministerin in Brandenburg, eine Ausdehnung in die alte Bundesrepublik, wegen der zu erwartenden Belastung des Verhältnisses zu den Grünen, eher für kontraproduktiv hält, sieht Christiane Ziller, die in Potsdam für einen Sprecherinnenposten kandidiert, frustrierte West-Grüne durchaus als Bündnis-Sympathisanten. „Vielleicht“, so Christiane Ziller, „ist die grüne Spitze zurück. Warum sollten wir nicht darauf setzen, daß die Basis weiter ist, als Bundesvorstand und linker Apparat.“ Da die Satzung des Bündnisses auch die Doppelmitgliedschaft zuläßt, müßte die Konkurrenz nicht einmal zwangsläufig konfrontative Formen annehmen.

Behutsame Töne verdecken den grünen Vereinnahmungs- pragmatismus

Auf etwaige bundesweite Ambitionen reagieren Grüne jedweder Couleur erwartungsgemäß allergisch. Entnervt durch den eigenen bundespolitischen Niedergang seit den verlorenen Wahlen und das echolose Agieren des neuen Bundesvorstands haben sich Rest-Linke wie Realpolitiker gerade auf behutsam-kooperative Töne gegenüber den Bürgerbewegungen verständigt.

Die Zusammenarbeit firmiert mittlerweile als „Existenzfrage“. „Sensibilität“ ist der inflationäre gebrauchte Begriff, mit dem die Grünen derzeit versuchen, das deutsch- deutsche Beziehungsvakuum zu verschleiern. Von Sympathie für den Gründungsprozeß war auf dem grünen Länderrat, der vergangenes Wochenende ebenfalls in Potsdam tagte, viel die Rede. Doch die inhaltliche Erklärung zu den gemeinsamen Perspektiven — von Christian Ströbele geradezu inständig gefordert — traute man sich nicht zu. Immerhin konnte Vorstandssprecher Ludger Volmer von einer in Auftrag gegebenen „juristischen Studie über die verschiedenen Wege des Zusammengehens“ berichten. Schwierigkeiten seien bereits absehbar.

Die wird es in der Tat geben. Denn das keineswegs aufgesetzte Selbstbewußtsein der Bürgerbewegungen wird nahezu zwangsläufig mit den grünen Kooperationsvorstellungen kollidieren. Zwar hat die klägliche Situation der Bundesgrünen den Willen zur Gemeinsamkeit in den letzten Monaten nachhaltig befördert; doch wo noch in Neumünster hinter den Kulissen die Grün-Verträglichkeit der einzelnen Bürgerbewegungen durchs ideologische Raster beurteilt wurde, scheint jetzt hinter der neuen Behutsamkeit bereits der zukünftige Pragmatismus durch. Für Joschka Fischer, der erklärtermaßen nicht zu den Ostkennern zählt, ist jedenfalls schon klar, „daß wir nicht getrennt antreten dürfen; diese Entscheidung ist in den Köpfen-West gefallen, in den Köpfen-Ost noch in Gang“. Und entgeistert fragt er in die Runde, „ob die ernsthaft an eine bundesweite Bedeutung glauben“.

Für den Bündnis-Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde — soviel ist absehbar — wird es nicht reichen. Doch solange die Grünen auf inhaltsleeren Pragmatismus setzen, ist die Kooperation mit dem neuen Bündnis schwierig und dessen Attraktivität, auch im Westen, denkbar. Vom grünen Apparat jedenfalls wird sich die Bürgerbewegung schwerlich beeindrucken lassen. Die eindringliche Erfahrung mit den auftrumpfenden Westparteien hat sie dagegen nachhaltig immunisiert.

Die Bürgerrechtler politisch ernst zu nehmen, werden die Grünen deshalb im Interesse einer gemeinsamen Perspektive nicht umhin kommen.