Umsiedlung der rheinischen Indianer

■ „Sozialverträglichkeit“? Die Zwangsumsiedler können darüber nur lachen

Gotteshülfe machte den Anfang. 1952 mußten die fünfzig Einwohner dieses Fleckens im westlichen Erftkreis weichen. Ihnen folgten bis heute rund 25.000 Menschen, deren achtzig Dörfer ausgelöscht wurden: Häuser und Gehöfte weggebaggert, der Boden durchfräst, die dunkelbraune Kohle herausgeknabbert, dann alles wieder zugeschüttet und in Reih und Glied bepflanzt („rekultiviert“). Die Vertriebenen im rheinischen Braunkohlerevier sind Umsiedler der anderen Art. Sie ziehen aus ihrer Generationen währenden Gemeinschaft in neue, säuberlich sortierte Reißbrettkommunen, damit ihre alte Heimat verheizt werden kann. Aus Lohn ist Neu-Lohn geworden, Garsdorf zu Neu-Garsdorf. Ob sie Altdorf wohl zu Neu-Altdorf machen?

Besichtigung einer Mondlandschaft im Südrevier zwischen Jülich und Düren: Senkrecht geht es bergab, ein gigantisches Loch fast bis zum Horizont, bis 150 Meter tief. Neben der Steilkante sind noch Asphaltreste geblieben und Bordsteinstücke. Das Dorf Pattern war hier, 96 Häuser, 350 Leute — alle weg, bis auf ein kleines Mauerteil und ein vergessenes Verkehrsschild. Zuletzt, 1989, waren in die verfallenen Gebäude praktischerweise noch ein paar Dutzend Tamilen hineingestopft worden: zwischengelagerte Asylbewerber.

Nebendran liegt die Gemeinde Inden, gut 2.000 Einwohner, eigene Autobahnausfahrt. Nächstes Opfer der Monsterbagger. Claudia Z. (Name geändert), erzählt von ihrem „Umsiedlerstatus“, der 80 Mark pro Quadratmeter garantiert. Das Haus der Familie sei geschätzt worden, „von einem Sachverständigen — neutral angeblich, na ja“. Auf dieser Basis werde nun mit Rheinbraun verhandelt. Mit wenig Spielraum, die Fachleute des Energiegiganten sind ja geübt, die Leute abzukochen: „Alles Verbrecher, so was von abgezockt“, aber was soll man machen...

Ja, was? Solidarität gebe es nicht. Jeder sieht zu, daß er, gegen Geheimhaltungsversprechen, ein paar Mark mehr rausschlägt. Sich weigern? Dann wird man zwangsenteignet und bekommt am Ende noch weniger. Die Kirche? „Der Pastor ist gerade durchgebrannt, mit irgendeiner Freundin.“ Die Kommunalpolitiker? „Der Bürgermeister ist doch Angestellter bei Rheinbraun.“ Nicht nur er: bald jeder zweite im Braunkohlerevier hat seinen Arbeitsplatz bei der Heimatdieb AG — und kuscht. Hilfe von außen, darauf hatte Claudia Z., „die eingeborene Indianerin, wie wir hier in Inden sagen“, lange gehofft: „In Aachen und Köln wird doch für jeden gefällten Baum demonstriert. Bei uns wird alles wegrasiert, und alle gucken weg.“

Inden ist, obwohl die Bagger erst in zwölf Jahren kommen, schon zu einem Viertel entsiedelt. Es ist so wie überall: sobald — zehn bis zwanzig Jahre im voraus — die Entscheidung fällt, verfällt das Dorf. Die ersten ziehen weg, Geschäfte und Kneipen machen zu, kein Pfennig wird mehr investiert. Ein Tod auf Raten. Alte Leute hoffen, daß sie schon unter der Erde sind, wenn die Bagger kommen. Die ewige Ruhe ist dann indes kurz und wird später auf dem Neu-Friedhof namens Abraumhalde fortgesetzt.

Claudia Z. kann das Thema nicht mehr hören. „Seit Jahren gibt es keine Feier, kein Fest, wo nicht ab 10 über Rheinbraun gesprochen wird.“ In ihrer Clique werden Erfahrungen über die Verhandlungen ausgetauscht; was die Nachbarn bekommen, weiß niemand. Um die Grundstücke in Neu-Inden habe es schon heftig Streit gegeben, warum wem Rheinbraun am Ende welches zuteilt, wisse niemand so recht. „Nachbarschaftsstreit ist da schon vorprogrammiert.“ In einem Jahr wird mit dem Bau begonnen, die Verschuldung ist enorm. Mieter haben andere Sorgen: Sie müssen halt zusehen, wo sie — verstreut, entwurzelt, im Irgendwo eine neue Bleibe finden — bei bis zu vierfachem Mietzins, wie die Vergangenheit gezeigt hat. Die Umzugskosten trägt Rheinbrauns Sozialetat.

Terminlich passend zur neuen Exodus-Entscheidung hat Rheinbraun mal wieder einen 5.000-t-Riesen auf die Reise von Tagebau zu Tagebau geschickt, für Nichtbetroffene seit jeher ein beliebtes und live bestauntes Spektakel, „Baggertourismus“ genannt. Samstag nacht muß er die Autobahn A61 überqueren. Wetten, daß wir dieses pittoreske Schauspiel in der Tagesschau zu sehen bekommen? Bernd Müllender